Stefanie Reinsperger als hinkender Philoktet im Volx/Margareten: mit Rohkraft durch das Versgewitter.


Foto: Robert Polster / Volkstheater

Wien – DDR-Dramatiker Heiner Müller schrieb sein Drei-Personen-Stück Philoktet Anfang der 1960er, im Schatten der von Ulbricht eilig aufgerichteten Mauer. Nach wie vor verblüfft die schiere handwerkliche Perfektion, mit der Müller Sophokles' Vorlage überschrieb und als Spiel von Täuschung und Überredung im Säurebad der Dialektik auflöste.

Ein Freund des Herakles wird auf einer Felsinsel ausgesetzt. Da eine Natter seinen Fuß brandig gebissen hat, muss Philoktet, des Gestankes wegen, mitsamt seinem Bogen auf Lemnos zurückbleiben. Die Griechenflotte schippert ohne ihn gen Troja weiter. Doch zehn Jahre vergeblicher Belagerung der Stadt richten die Begehrlichkeit zurück auf den Exilierten.

Der listenreiche Odysseus landet mit Neoptolemos, des toten Achilles' Sohn, auf Lemnos. Im Volx/Margareten, wo man sich auf Müllers Lesedrama ehrfürchtig besinnt, hängen Bilderrahmen von der Decke (Ausstattung: Amelie Sabbagh), die Bildflächen sind durch hauchzarte Gewebe ersetzt. Odysseus (Sebastian Klein) versteht es, verständig daherzureden. Als smarter Jungfunktionär würde er auch in einer liberal-bürgerlichen Mittelpartei gute Figur machen.

Doch Odysseus führt schweres Gepäck mit. Sein Begleiter ist ein reiner Tor mit schwarzer Mähne. Neoptolemos (Luka Vlatkovic) soll den Schrat auf dem Eiland beschwatzen helfen, vor die Mauern Trojas zu ziehen. Er hat mit dem Expeditionsleiter seinerseits ein Hühnchen zu rupfen. Im Spiel der wechselnden Loyalitäten taucht endlich der Fußmarode selbst auf.

In Gestalt Stefanie Reinspergers ist Philoktet eine schwer hinkende Amazone; der todbringende Bogen ist zugespitzt wie ein Vermessungsdreieck. Vor allem aber begräbt der weibliche Exilant die ungebetenen Gäste unter einer todbringenden Suada. Sich selbst weiß sie nicht anzuschauen: "Mein Schrecken war: Mein Feind hat kein Gesicht. / Könnt ich mir selber in die Augen sehn (...)."

Gift und Galle

Reinsperger spuckt Gift und Galle, spielt aber auch wundersam mit Vers und Tempo. Bub Neoptolemos staunt nicht schlecht über diese androgyne Naturgewalt! Er nimmt es hin, statt eines Biers nur Staub aus der Flasche vorgesetzt zu bekommen. Irgendwann stecken die beiden auch gegen Odysseus unter einer Decke (der hält sich zunächst nobel im Hintergrund). Man streichelt, tröstet, herzt und überredet einander. Zwei Kinder begehren auf und sitzen doch fest im Würgegriff von Ideologie und Politik.

Man scheut sich zuzugeben: Auch Neoptolemos wird Philoktet hintergehen, ihn um den heiß begehrten Bogen prellen. Alle Beteiligten führen gute Gründe en masse im Angebot. Und doch: Calle Fuhrs Inszenierung ist so brav geschnäuzt und gekämmt, so siebensüß und bitterzart, so völlig korrekt – und ideologisch unbedarft.

Müllers Einrichtung der Welt als Schlachthaus, in dem die Agenten des Fortschritts sich notwendigerweise die Hände mit Blut besudeln, wird nie recht deutlich. Das Stück ist stark verblasst. Es wirkt im Gehämmer der Blankverse (Reinsperger brilliert!) seltsam unkonkret, als hätte man es um Wirklichkeitsanteile erleichtert.

Der stille Brüter Neoptolemos meuchelt den unwilligen Philoktet aus Notwehr. Das Schlussbild drückt das Dilemma am nachhaltigsten aus: Neoptolemos will sich den Toten auf die Schultern laden. Die Leiche ist ein Propagandamittel. Er bekommt den widerspenstigen Kadaver nicht zu fassen. Stück und Figur? Bleiben liegen. (Ronald Pohl, 8.5.2017)