Wohin die Reise geht, werden die Parlamentswahlen im Juni zeigen.

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STANDARD: Emmanuel Macron hat alle etablierte Parteien aus dem Rennen geworfen und ist als parteiloser Kandidat Präsident geworden. Welchen Nerv hat er getroffen?

Kempin: Er war mit Abstand der optimistischste und dynamischste Kandidat und hat davon profitiert, dass sich in Frankreich über die letzten Jahrzehnte eine Anti-System-Haltung ausgeprägt hat. Die Menschen haben das Gefühl, dass keine der etablierten Parteien im Land willens ist, das Land voranzubringen. Er hingegen konnte überzeugend darlegen, dass es ihm um Ideen und Lösungen geht und dass er bereit ist, dafür ein Risiko einzugehen. Er ist ja frühzeitig aus der Regierung Hollande ausgestiegen, der er als unabhängiger Wirtschaftsminister angehörte.

STANDARD: Wie interpretieren Sie das Ergebnis von Marine Le Pen?

Kempin: Das Wahlergebnis zu deuten ist nicht leicht. Historisch ist, dass am Sonntag elf Millionen Wählerinnen und Wähler dem Front National ihre Stimme gegeben haben. Le Pens Kurs, den FN aus der rechtsextremen Schmuddelecke herauszuführen, ist damit aufgegangen. Es gibt aber auch Stimmen innerhalb der Partei, die diesen Kurs kritisch betrachten und mit Marine Le Pen hadern.

STANDARD: Muss Le Pen nun mit internen Machtkämpfen rechnen, zum Beispiel schon bei der Sitzung am Dienstag?

Kempin: Am Dienstag wird es einmal um die Aufstellung bei den Parlamentswahlen gehen, bei der sich der FN gute Chancen ausrechnet. Bis dahin hat Le Pen noch eine Art Galgenfrist. Und je nachdem, wie die Wahlen ausgehen, wird sie gestärkt oder geschwächt in den Sommer gehen. Viele in der Partei sehen aber jetzt schon die Nichte, Marion Maréchal-Le Pen mit ihrem radikaleren Kurs als zukünftige Vorsitzende.

STANDARD: Apropos Wahlen im Juni: Welche Politik könnte ein Präsident Macron schon vor der Parlamentswahl durchziehen, um seiner Partei Wahlvorteile zu verschaffen?

Kempin: Jetzt ist erstmal relevant, welche Regierung Macron zusammensetzt und auf welche Impulse diese Zusammensetzung hindeutet. Interessant wird, zu sehen, wie stark er sich schon vor den Wahlen in Abhängigkeiten begeben muss. Macron wird wohl auch stark auf das Personal von François Bayrou (Kandidat der Partei "Demokratische Bewegung", Anm.) zurückgreifen müssen und auf Politiker anderer etablierter Parteien, die früh zu ihm übergelaufen sind, wie zum Beispiel der Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian. Je abhängiger Macron sich jetzt schon macht, desto geringer sind die Chancen für En Marche, im Juni eine Mehrheit zu bekommen. Meiner Meinung nach wird er sich aber auf eine Koalitionsregierung einstellen müssen, vielleicht mit einem republikanischen Premierminister.

STANDARD: Droht dann ein Stillstand in Frankreich?

Kempin: Eine Koalitionsregierung kann auch eine Chance sein. Je breiter diese Regierung ausfällt, desto stärker kann man die politischen Parteien zur Verantwortung ziehen. Vielleicht werden die Aushandlungsprozesse der Reformagenda länger dauern, aber dafür wären die Reformen leichter vermittelbar.

STANDARD: Sind Präsidialdekrete eine Möglichkeit?

Kempin: Wenn man mit Präsidialdekreten regiert, begibt man sich politisch auf sehr dünnes Eis – Dekrete am Parlament vorbei sind juristisch anfechtbar. Ein Ausweg wäre es eventuell, nach einem Jahr die Nationalversammlung aufzulösen und bei Neuwahlen eine bequemere Mehrheit zu erhalten.

STANDARD: Welche Themen wird er als Erstes angehen müssen?

Kempin: Muss er bei der Regierungsbildung starke Kompromisse eingehen, wird er sich wohl zuerst auf die Außen- und Europapolitik verlagern, da kann er als Präsident unabhängig vom Parlament agieren. Sind die Mehrheitsverhältnisse für ihn einfach, müsste er wohl sein Versprechen einlösen, Frankreichs Hausaufgaben zu machen, also die Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik anzugehen.

STANDARD: Was bedeutet das Wahlergebnis für die weitere Entwicklung der Europäischen Union?

Kempin: Das Wahlergebnis ist jedenfalls ein gutes Signal. Macron war der einzige Politiker, der mit einem proeuropäischen Bekenntnis angetreten ist. Aus Berlin gesprochen: In den letzten Jahren hat man gesehen, wie wichtig der deutsch-französische Motor ist. (Manuela Honsig-Erlenburg, 8.5.2017)