Ein Bursch in einem Bett mit hohen Gitterstäben aus Eisen; ein anderer Bub in einer selbst gemachten Zwangsjacke; eine 20-Jährige in einem winzigen Gitterbett; ein Teenager mit abgemagerten Beinen als Zeichen von Unterernährung; Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit offenen, unbehandelten Wunden im Gesicht und an den Extremitäten: Die Beschreibungen stammen nicht aus einer Chronik über den Wiener Narrenturm – von 1784 bis 1866 eine Verwahranstalt für "Geisteskranke" – oder aus Berichten über rumänische Kinderheime unmittelbar nach dem Fall des Kommunismus. Vielmehr sind sie in einem aktuellen Bericht über ein Heim für intellektuell beeinträchtigte Menschen in Ungarn enthalten.

Einen Tag lang sah sich die britisch-ungarische Zivilorganisation MDAC (Mental Disability Advocacy Centre / Zentrum für den Schutz der Rechte von geistig Behinderten) in Topház um. Dabei handelt es sich um ein Heim für 220 intellektuell und/oder körperlich behinderte Menschen in Göd bei Budapest, das 1977 in einer ehemaligen Burg eröffnet worden war. Am Mittwoch präsentierte die Organisation ihre daraus gewonnenen Erkenntnisse den Medien in Budapest.

Unter dem Titel "Gestank, Wunden und Zwangsjacken" listet das Dokument Missstände auf. Die Erkenntnisse, die das MDAC-Team bei seinem Besuch in Topház im Vormonat gewonnen hat, "deuten auf ernsthafte Misshandlungen und Vernachlässigungen von Erwachsenen und Kindern mit geistigen, kognitiven, entwicklungsbedingten, multiplen und schweren Behinderungen hin", heißt es da. "Das MDAC-Team sah Fälle von Folter oder Misshandlung von Patienten."

Vorwurf des Systemversagens

Steven Allen, der Kampagnen-Direktor von MDAC, sagte: "Die Zustände, Praktiken der Misshandlung und Belege für Gewaltanwendung in dieser Einrichtung sind das Ergebnis eines Systemversagens in Gesetzgebung, Politik und Regulierung sowie des Mangels an effizienter und unabhängiger Kontrolle." Die 220 Menschen in Topház sowie zehntausende Kinder und Erwachsene in anderen ungarischen Heimen für Behinderte "werden weiterhin weggesperrt, um sie den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen".

MDAC fordert deshalb die unverzügliche Schließung aller staatlich betriebenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Topház und andere Heime dieser Art erhalten erhebliche Förderungen von der Europäischen Union. Obwohl unlängst aufwendig renoviert, wird laut NGO in Topház den Grundbedürfnissen der Patienten in Hinblick auf Sicherheit, Nahrung, Gesundheit, Bildung und kindlicher Entwicklung nicht Rechnung getragen. MDAC fordert deshalb eine Untersuchung dieser Heime durch die Anti-Betrugs-Behörde OLAF, um der möglichen Veruntreuung von EU-Geldern nachzugehen.

Heimleiter entlassen

Am Donnerstag reagierte das ungarische Sozialministerium und entließ den Leiter des Heims. Zudem sollen Großeinrichtungen wie Topháza aufgelöst werden. Der MDAC-Bericht wird in der Stellungnahme nicht erwähnt.

Das ungarische System der Heimunterbringung ist geprägt von Altlasten aus der Zeit des Kommunismus. Doch auch 13 Jahre nach dem EU-Beitritt werden intellektuell Beeinträchtigte nicht in kleineren Einheiten oder Projekten des betreuten Wohnens untergebracht, sondern von der Gesellschaft abgesondert. Vor drei Jahren empfahl der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, nach einem Besuch in Ungarn, niemanden mehr in große Einrichtungen wie Topház unterzubringen und auch keine EU-Gelder mehr für die Renovierung dieser Verwahrungsanstalten aufzuwenden. (Gregor Mayer aus Budapest, 4.5.2017)