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Foto: AP Photo/Alexander Zemlianichenko

Viktors erste Erinnerungen an den 1. Mai stammen aus der Schulzeit. "Damals sind wir an dem Tag immer in langen Kolonnen durch die Stadt bis zum Lenin-Denkmal marschiert", erinnert sich der 68-Jährige aus der Industriestadt Podolsk, unmittelbar südlich von Moskau. "Natürlich im weißen Hemd und mit Pioniertuch", fügt er hinzu. Auf dem Platz vor dem Denkmal war eine Tribüne aufgebaut, von der die örtliche Parteiprominenz den Menschenmassen zuwinkte.

"Unsere Stimmung war festlich – auch weil wir wussten, dass wir nach der Demo nicht wieder in die Schule mussten, sondern nach Hause durften", so Viktor. Die Demonstration freilich war eine Pflichtveranstaltung. Pionierleiter in den Schulen und später Komsomolfunktionäre und Parteisekretäre kontrollierten, dass sich keiner davor drückte. Am 1. Mai "durften" die Menschen in der Sowjetunion "ihre Solidarität mit dem revolutionären Kampf der Werktätigen in den kapitalistischen Ländern und dem nationalen Befreiungskampf ausdrücken sowie ihre Entschlossenheit bekunden, alle Kraft dem Kampf für den Frieden und den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft zu opfern".

Mit dem Zerfall der Sowjetunion endete auch erst einmal die Tradition der offiziellen Maidemonstrationen. Zuletzt stand als Präsident Michail Gorbatschow 1991 in Moskau auf einer Tribüne vor dem Lenin-Mausoleum. Zwei Jahre später kam es sogar zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizeisondereinheit OMON.

Weiterhin Feiertag

Dennoch ist der 1. Mai weiterhin ein Feiertag. Wurde er zu Sowjetzeiten als "Tag der Internationale" und später als "Tag der internationalen Solidarität der Werktätigen" begangen, heißt er nun "Feiertag des Frühlings und der Arbeit" und ist weiterhin frei. Damit ist der 1. Mai in der von Brüchen geprägten russischen Geschichte der älteste durchgängig begangene Feiertag – zwar wurde das Neujahr auch schon zur Zarenzeit gefeiert, allerdings wegen des julianischen Kalenders zwei Wochen später als heute.

Nach der Jahrtausendwende feierten auch die Maidemonstrationen, die in den 90er Jahren als ein ebensolches Relikt wie die sie organisierende Kommunistische Partei galten, ein überraschendes Comeback als Huldigungssymbol für die Mächtigen. Kremlchef Wladimir Putin nimmt zwar die Demonstration nicht mehr winkend am Leninmausoleum ab, war aber auf den Plakaten der Demonstranten allgegenwärtig: "Putins Plan ist der Plan für den Sieg", "Putin ist für das Volk und führt Russland beherzt zum Sieg", oder "Ein starker Präsident, ein großes Land" tauchten neben offiziös-politischen Losungen wie "Drei Kinder in der Familie sind die Norm" oder "Unsere Kinder sind frei, klug, patriotisch" auf. Auch Viktor und Irina wurden wieder von ihrem Betrieb zur Maidemo gedrängt.

Wirtschaftskrise

Doch die wirtschaftliche Krise hat die Renaissance der offiziellen Maidemos gestoppt. Es ist deutlich weniger Geld für die Organisation da – und so sinken die Teilnehmerzahlen seit einigen Jahren wieder ab. Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums ist die Bereitschaft der Russen an einer Maidemo teilzunehmen, auf den tiefsten Punkt seit 15 Jahren gesunken.

Heute verbinden die Russen mit dem 1. Mai den Beginn der Datscha-Saison. Raus aus der Stadt auf’s Land zum Anbau von eigenem Obst und Gemüse. In vielen Gartenanlagen wird just zu dieser Zeit erst Strom und Wasser angestellt. Auch Viktor ist in diesem Jahr auf seine Datscha gefahren und eifrig dabei, altes Holz zu sägen und zu verbrennen, während seine Frau Irina sich den Aufbau eines kunststoffüberdachten Frühbeets vorgenommen.

"Mein Programm ist auch ohne Demo voll genug", sagt Viktor. Denn nach dem Arbeitseinsatz kommt das Vergnügen auf der Datscha – Schaschlik und ein kühles Bier. So lässt es sich aushalten. Und die Demo? "Die kann ich mir doch abends in den Nachrichten anschauen", sagt Viktor. (André Ballin, 1.5.2017)