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Ein Mob stürmte das Parlament in Skopje und verletzte mehr als hundert Menschen zum Teil schwer.

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In Mazedonien ist die seit Monaten gespannte Lage am Donnerstagabend eskaliert, mehr als 100 Menschen wurden bei Ausschreitungen im Parlamentsgebäude verletzt, darunter auch der Chef des sozialdemokratischen Wahlsiegers, Zoran Zaev. DER STANDARD hat den Balkanforscher Dušan Reljić von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gefragt, wie er die Situation in dem kleinen Balkanland einschätzt.

STANDARD: In den Medien wird von "Bürgern" gesprochen, aber auch von "Nationalisten" und Anhängern des früheren Langzeitpremiers Nikola Gruevski, die am Donnerstagabend das Parlament in Skopje gestürmt haben. Was trifft da am ehesten zu?

Reljić: Alles irgendwie. Das waren jedenfalls keine spontanen Demonstrationen oder Aufmärsche von zivilgesellschaftlichen Organisationen, sondern Gruppen aus dem Umfeld Gruevskis, die einen Einsatzbefehl von dessen Partei VRMO bekommen haben. Sie sind organisatorisch, politisch und personell ein Teil der ehemaligen Regierungspartei.

STANDARD: Aus Skopje ist zu hören, man habe mit derartigen Ausschreitungen gerechnet, sobald die bisherige Opposition den Parlamentspräsidenten installiert.

Reljić: In Mazedonien ist seit längerer Zeit ein Nullsummenspiel im Gange. Für Gruevski und seine Leute ist eine sozialdemokratische Regierung unerträglich, weil die Sozialdemokraten als Erstes Anklagen erheben werden, die ihn und seine Leute ins Gefängnis bringen. Es ist bewiesen, dass er illegal tausende Mazedonier abhören ließ. Nur indem er an der Macht bleibt, kann er also verhindern, ins Gefängnis zu gehen.

STANDARD: Wie geht es jetzt mit den Sozialdemokraten weiter?

Reljić: Ihre Chancen sinken wohl drastisch, wenn sie jetzt nicht an die Macht kommen. Gruevski verlangt Neuwahlen, die er aufgrund der nationalistischen Mobilisierung des vergangenen Jahres wohl gewinnen würde. Das ist auch der Grund, warum die Sozialdemokraten sich gestern auf dieses Vabanquespiel eingelassen haben, den neuen Parlamentspräsidenten mit einer Mehrheit von 61 von 120 Stimmen zu wählen, obwohl der amtierende Parlamentspräsident die Sitzung bereits für beendet erklärt hatte. Sonst hätte sich das Tauziehen noch fortgesetzt, was letztlich Gruevski hilft. Der slawische Teil der Bevölkerung wird nun von Gruevskis Medien und seinen Intellektuellen immer stärker in Richtung des antialbanischen Nationalismus aufgehetzt und die Sozialdemokraten als Verbündete der Albaner dargestellt.

STANDARD: Was verlangen die Albaner denn?

Reljić: Es ist eine Tatsache, dass die Sozialdemokraten ein Bündnis mit mehreren albanischen Parteien geschlossen und auch recht weitreichende Zugeständnisse gemacht hat, etwa dass über die Verwendung der albanischen Sprache auf dem gesamten Territorium Mazedoniens verhandelt werden soll. Das sind zwar eher symbolische Dinge, nichtsdestotrotz für einen großen Teil der slawischen Bevölkerung ein Schreckgespenst, weil dort viele Angst haben, dass die Albaner einen Teil des Landes an sich reißen.

STANDARD: Jüngst haben die Regierungschefs Albaniens und des Kosovo verstärkt auf ethnonationalistische großalbanische Töne gesetzt. Spielt das in den Konflikt in Mazedonien hinein?

Reljić: Das kommt immer in Wellen und ist der große weiße Elefant im Raum, von dem man nicht gern spricht. Bei einem überwiegenden Teil der Albaner in der Region war eine starke nationalistische Bestrebung immer schon vorhanden. Meinungsumfragen haben gezeigt, dass etwa in Mazedonien 60 bis 65 Prozent der Albaner für ein Großalbanien sind, im Kosovo sind es fast 90 Prozent, in Albanien hingegen gerade einmal 50 Prozent. Wenn allerdings dann weitergefragt wird, ob die Politiker sich für dieses Großalbanien einsetzen sollen, sind nur etwa drei oder vier Prozent der Menschen dafür. Albanische Politiker holen diese Karte immer heraus, wenn Wahlen anstehen oder wenn sie von der EU Zugeständnisse wollen. Aber natürlich kann das irgendwann unkontrollierbar werden.

STANDARD: Droht ein Bürgerkrieg?

Reljić: Nein. Diese Gefahr sehe ich überhaupt nicht. Für einen Bürgerkrieg braucht man Waffen, diese sind in Mazedonien aber unter Kontrolle der Regierung. Zweitens braucht es den politischen Willen dazu, den sehe ich aber bei den Albanern nicht, auch wenn es etwa 2001 und 2015 aufstandsähnliche Konflikte gegeben haben mag. Die Albaner haben eindeutige Signale aus den USA bekommen, dass sie sich ruhig zu verhalten haben. Für sie ist viel mehr zu gewinnen, wenn sie starker Partner einer mazedonischen Regierung werden. Und auch im Ausland gibt es niemanden, der einen Bürgerkrieg unterstützen würde.

STANDARD: Welche Rolle spielt die jahrelange politische Blockade Mazedoniens durch Griechenland?

Reljić: Mazedonien ist seit sieben Jahren EU-Beitrittskandidat, aber die Verhandlungen beginnen nicht, weil Athen ein Veto eingelegt hat. Natürlich schwächt das den Zusammenhalt im Land, und sehr oft haben die albanischen Parteien die slawischen Mazedonier zum Handeln gedrängt, das den Limbozustand beenden könnte. Vonseiten Griechenlands ist aber nicht mit Entgegenkommen zu rechnen, besonders weil es derzeit selbst so schwach ist.

STANDARD: Die Versuche der USA und der EU, das kleine Balkanland zu stabilisieren, scheinen gescheitert. Hat man sich zu wenig um politische Reformen gekümmert?

Reljić: Das Sagen haben jedenfalls stets die US-Amerikaner gehabt, nicht die Europäer. Dass sich etwa die Albaner vor eineinhalb Jahren von Gruevski ab- und den Sozialdemokraten zugewandt haben, geht auf direkte Hinweise aus Washington zurück. In der gesamten Region wird nach wie vor Amerika als der wichtigste sicherheitspolitische Partner betrachtet, vor allem von den Albanern. Das Gerede über den angeblich wachsenden Einfluss Russlands halte ich für Nonsens, niemand hält Moskau ernsthaft für einen politischen Partner.

STANDARD: Was bedeutet ein destabilisiertes Mazedonien für die Region – etwa hinsichtlich der Flüchtlingsbewegungen auf der sogenannten Balkanroute?

Reljić: Die gesamte Region ist in den vergangenen Jahren schwächer und instabiler geworden. Die Ursache ist aber nicht vordergründig politisch, sondern der Mangel an sozioökonomischem Wandel. Die Region verharrt seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 in Stagnation. Neben den vielen eigenen Schwächen, die alle diese Länder aufweisen, liegt das aber auch an der extrem starken Integration der Region in die Wirtschaftsstrukturen der EU, vor allem Deutschlands und Italiens. Wenn Deutschland hustet, bekommen Länder wie Mazedonien Tuberkulose.

STANDARD: Was bedeutet das?

Reljić: 85 Prozent des Außenhandels finden mit der EU statt, auch Österreich spielt im Banken- und Versicherungsbereich eine gewisse Rolle. Wenn die Länder zwischen 2006 und 2016 ein Handelsdefizit von 100 Milliarden Euro zusammenkommen lassen, bedeutet das, dass kein Geld mehr für die Förderung des Wachstums oder Infrastruktur vorhanden ist. Das ist der eigentliche Grund für die Instabilität der Balkanländer. Einzig Albanien weist etwas bessere Zahlen auf, was aber vor allem daran liegt, dass man dort von viel weiter hinten aufholt und zudem ein Viertel des Budgets von Gastarbeitern in Italien und Griechenland überwiesen bekommt. Kein junger Mensch etwa im Kosovo glaubt, dass es in seiner Lebenszeit wirtschaftlich bergauf gehen könnte. Aus eigener Kraft kann sich die Region nicht erholen. (Florian Niederndorfer, 28.4.2017)