Wie fast jeden Tag macht Yoshi auch heute wieder ein Foto von sich. Der 14-jährige Japaner mit den punkigen Haaren hat sich mächtig aufgestylt, er trägt eine Tasche von Armani und einen dieser extravaganten Mäntel mit den breiten Schultern des Hype-Labels Balenciaga, in dem er fast verschwindet. Er posiert, als ob er noch nie etwas anderes im Leben gemacht hätte: Seine coolen Fashion-Selfies schießt er am liebsten im öffentlichen Lift seines Wohnblocks. 1.715 Likes hat er bisher für diese Style-Inszenierung bekommen, ein Fan hat viele Emojis darunter gepostet und ihn "King of Tokyo" genannt.

Dabei besitzt der kleine König noch nicht einmal ein eigenes Telefon: Er verwendet das Handy seiner Mutter. Die ehrwürdige "Vogue" feierte ihn jüngst als das "coolste Kid in Tokio", eine Redakteurin ging mit ihm im Trendbezirk Shibuya shoppen, begleitete das Nachwuchs-Fashion-Victim, das regelmäßig die Vintage-Läden abgrast, um ausgefallene Designerkleidung zu finden.

Auf sein Hobby brachte ihn ein anderer Jugendlicher, den er bei einem Wettbewerb für Modellautorennen kennengelernt hatte – dieser trug Designerklamotten von Yohji Yamamoto und Rick Owens. Yoshi war sofort angesteckt vom Modevirus, tauschte seine kleinen Rennautos gegen künstliche Pelzmäntel und Raf-Simons-Secondhand-Shirts.

Auf Instagram sah er dann, dass eine Shoperöffnungsparty des gefeierten Streetwear-Labels Off-White angekündigt wurde. Er mogelte sich ohne Einladung hinein und schaffte es, mit seinem ausgefallenen Stil sogar die Aufmerksamkeit des Label-Gründers Virgil Abloh auf sich zu ziehen.

Das Ergebnis war ein ziemlich cooles Foto: Abloh sitzt entspannt auf einem Bürostuhl, Yoshi steht wie ein Herrscher auf einem Tisch über ihm, in einen Fake-Fur-Mantel gehüllt, mit einer extrem weiten Hose, der Gürtel erinnert an Fetischmode, und weiße Sonnenbrillen verdecken seine Augen. Er posierte wie ein Profi. Binnen kürzester Zeit zählte sein Instagram-Account (Adresse: "_____226_____") über 26.000 Follower.

Die Sucht nach Beliebtheit

Keine Frage: So beginnen moderne Märchen. War es früher noch der Traum von einer Modelkarriere, der vor allem Mädchen beflügelte, sind heutzutage viele Kids süchtig nach Likes in den sozialen Medien. Für einige von ihnen macht sich das auch bezahlt. Labels entdecken gerade das Potenzial sogenannter Micro-Influencer, das sind Instagram-Stars, die zwar nicht wie Chiara Ferragni ("The Blonde Salad") oder Leandra Medine ("Man Repeller") Millionen von Fans haben, aber gerade dadurch glaubwürdiger bleiben als die schwerverdienenden Medienprofis, denen man ansieht, dass sie nicht nur mit Produkten überhäuft, sondern auch von Marken bezahlt werden.

Micro-Influencer haben meist unter 50.000 Follower, die Firmen schätzen an ihnen, dass sie direkter mit ihrer Clique kommunizieren, persönlicher rüberkommen. Letztendlich ist die Rate jener Leute, die mit den millionenschweren Großstars direkt kommunizieren nämlich erschreckend gering. Natürlich bedeutet es für die großen Marken einiges an Mehrarbeit, die in den nächsten Jahren auf sie zukommt, um auch die kleinen Blogger weltweit im Auge zu behalten. Für Kids wie Yoshi wiederum heißt es, dass sie schnell Teil einer großen Marketingmaschinerie werden. Sie bekommen Geschenke (die neuesten Sneakers!), werden für Shootings in Zeitungen oder als Models gebucht. Sie werden gehypt, bis der nächste, noch jüngere Internetstar sie ablöst.

Yoshi ist kein Einzelfall, sondern ein weltweites Phänomen, das verstärkt auch Burschen erfasst. Der Engländer Leo Mandella, auf Instagram als "Gully Guy Leo" bekannt, wohnt in Warwickshire, wo es laut Eigenauskunft nicht einmal eine Modeszene gibt. Leo braucht das reale Leben für seinen Starruhm aber ohnehin nicht.

Binnen kürzester Zeit sammelte er auf Instagram 215.000 Follower, auch weil er durch Shootings in Online-Magazinen bekannt wurde. Sein Stil: Er posiert in den gerade angesagten Streetwear-Klamotten von Supreme, Palace und Gosha Rubchinskiy. Bisher hat er rund 10.000 Euro allein für Klamotten ausgegeben, das ist selbst für Erwachsene eine hübsche Summe. Die Online-Plattform "Highsnobiety", die ihn porträtierte, scherzte, dass er sich dafür ein Auto hätte kaufen können – wenn er schon einen Führerschein besitzen würde.

NUFFSTUFF

Wie können sich die Kids das überhaupt leisten? Einige haben reiche Eltern, andere entwickeln schon früh Skills als Jäger und Zwischenhändler. Sie stellen sich nächtelang vor Shops an, um die gefragten limitierten Produkte zu ergattern. Diese tragen sie dann ein paar Mal, machen hübsche Fotos von sich und verkaufen die Hype-Produkte dann schnell wieder, um einen Gewinn daraus zu ziehen, der in das nächste Kleidungsstück fließt. Campieren vor den Shops gehört zu ihrem Alltag, was die besorgten Eltern oft nicht gerne sehen.

Das "Vice Magazine" hat Kinder und Jugendliche befragt, die vor dem Londoner Dover Street Market die halbe Nacht gewartet haben, um ein Stück aus der neuesten Lieferung des russischen Streetwear-Champions Gosha Rubchinskiy zu kaufen. Ein 13-Jähriger meinte: "Es fühlt sich einfach gut an, wenn man in Soho herumläuft und etwas anhat, das schwer zu kriegen war, das andere nicht besitzen." Kids lieben Rubchinskiy, für dessen Shirts mit den kyrillischen Aufschriften stellen sie sich auch vor dem Wiener Shop Firis gern an. Gleich um die Ecke liegt das Sneakergeschäft Solebox, auch eine beliebte Adresse für ausgefallene, limitierte Turnschuhmodelle, mit denen man auf dem Pausenhof für Aufmerksamkeit sorgen kann.

Zahlreiche Labels setzen gerade verstärkt auf die Strategie der Verknappung. Die Fashionindustrie wird immer schnelllebiger, die Aufmerksamkeitsspanne der potenziellen Käufer kürzer. Das Zugpferd sind limitierte Produkte, eine etwas verzweifelte, aber gewinnträchtige Methode, in einem völlig übersättigten Markt doch noch für einen Hype zu sorgen. Gerade bei Jugendlichen trifft das einen Nerv, sie möchten zum coolen Streetwear-Klub gehören, wollen über Kleidung zeigen, dass sie etwas Besonderes sind.

Konsumbesessenheit

Kritiker finden völlig zu Recht, dass eine Generation heranwächst, die besessen von Konsum ist. Es geht darum, was man sich leisten kann: Die billigsten Sneakers kosten 200 Euro, Vetements- oder Gucci-T-Shirts können an die 800 Euro ausmachen. Das sind selbst für Erwachsene verrückte Summen. War es früher ein Musikgeschmack, den man teilte, sind es heute Klamotten, die definieren, zu welcher Gang man gehört. Limitierte Yeezy-Sneakers steigern das Selbstwertgefühl.

Für einige Jugendliche ist das Leben in der Modeblase aber auch gewinnbringend. Viele der neuen Micro-Influencer werden von Labels mit Produkten gratis versorgt. Doch die Jagd nach neuer Kleidung ist fast schon ein Fulltime-Job, man ist schneller wieder out, als man glaubt. Schon ist das nächste spezielle Produkt auf dem Markt, das man unbedingt besitzen muss. Und man sammelt nicht nur Freunde. Leo berichtet in Interviews auch von Neid und Hasspostings, mit denen er zu kämpfen hat.

Es wäre interessant zu beobachten, wie die jungen Mode-Aficionados in zehn Jahren agieren. Jagen sie noch immer das neueste Hoodie? Arbeiten sie in der Mode? Können sie von ihren Likes leben? Yoshi möchte Designer werden, sagt er. Leo weiß noch nicht, wie es weitergehen soll. Mindestens genauso spannend wäre es, zu wissen, was die Eltern von ihren Kindern halten, die mit 14 schon ein Business aufziehen. Und sei es mit dem Handy der Mama. (Karin Cerny, RONDO, 8.5.2017)