Andreas Altmann: "Ich bin ein rüstiger Herr, der bisweilen etwas raushaut, auch auf die Gefahr hin, Leser zu verlieren."


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Andreas Altmann, "Gebrauchsanweisung für das Leben". € 15,50 / 240 Seiten. Piper-Verlag, München 2017

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STANDARD: Herr Altmann, würden Sie sich als Flaneur bezeichnen?

Andreas Altmann: Das ist ein wundersames Wort. Früher wehrte ich mich dagegen, behauptete trotzig: Ich flaniere nicht. Heute finde ich das gut. Flanieren bedeutet, nicht ununterbrochen auf ein Handy zu glotzen, sich auf den Augenblick zu konzentrieren, im Augenblick zu leben. Flanieren ist schön.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Gebrauchsanweisung für das Leben" schweifen Sie meist heiter-gelassen herum, bleiben aber an gewissen Punkten plötzlich stehen, weil Sie etwas sehen, dass Sie ärgert. Dann schreiben Sie sich in Rage. Ganz so scheint das mit der Gelassenheit nicht zu klappen, oder?

Altmann: Meine Sozialisierung ist in manchen Punkten nicht gelungen. Das hängt mit meiner etwas anstrengenden Jugend zusammen. Anderseits bedeutet, giftig zu sein: Energie. Ich bin ein rüstiger Herr, der bisweilen etwas raushaut, auch auf die Gefahr hin, Leser zu verlieren, weil sie das arschig finden. Ich wollte immer leicht und leichtfertig wie George Clooney sein. Aber ich bin nicht George Clooney. Also muss die Wut raus: über mich, über die Welt, über die Weltbewohner. Immerhin versuche ich, sie einigermaßen zivilisiert zu formulieren.

STANDARD: Der Zorn als Energie?

Altmann: Ja, das ist ein uralter Hut. Leute, die diese Energie in sich spüren, kann man ja im Gegensatz zu den Verzagten und Mürben noch retten. Sie haben Kraft.

STANDARD: Die Depperten haben es gut, die spüren sich nicht.

Altmann: Entweder man ist ein Heiliger oder zu dämlich, um die Welt wahrzunehmen.

STANDARD: Wie ist es zu Ihrem neuen Buch "Gebrauchsanweisung für das Leben" gekommen? Der Titel hat etwas Ironisches beziehungsweise Altertümliches. Das kann doch nicht ernst gemeint sein.

Altmann: Natürlich nicht! Wer bin ich denn – vom Größenwahn geschlagen? -, dass ich mir einbilde, jemanden die Welt erklären zu müssen? Natürlich ist das ironisch gemeint. Allerdings ist die "Gebrauchsanweisung für"-Reihe die erfolgreichste im deutschen Buchhandel, sprich, ein Titel musste her, der provoziert.

STANDARD: Sie versuchen, dem großen Thema unter anderem auch mit anekdotischen Passagen beizukommen, etwa zu den Themen Gier beziehungsweise Neugier.

Altmann: Ich erinnere mich an ein Interview mit einem amerikanischen Schriftsteller. Der sagte: "The basic line of literature is to write a story." Erzähl Geschichten. Statistiken und Daten kann jeder in Wikipedia nachschauen. Doch auf dem Umweg über Geschichten komme ich den Leuten näher. Ein Schreiber muss auf intelligente Weise unterhalten. Unterhaltung hat ja einen schlechten Ruf, weil sie in den meisten Fällen nicht intelligent ist. Schauen Sie, ich habe nur mich als Ware, ich bin ja nicht der Kaiser von Deutschland. Da ich aufgrund meiner Kindheit und Jugend mehr als 20 Jahre Therapien auf drei Kontinenten hinter mir habe, kenne ich mich ein bisschen im Leben aus. Ich habe ja nicht nur meinen Bauchnabel betrachtet, sondern in Gruppentherapien auch andere Leute beobachten können, ihre Neurosen, ihr Leid. Früher war es in Reportagen nicht erlaubt, "ich" zu sagen. Man sollte neutral formulieren. Heute weiß man, dass man via "ich" den Leser viel schneller in ein Thema hineinzieht. Sodass er sich fragt: Wie würde ich in dieser Situation handeln oder reagieren? Genauso feig? Bisschen mutiger? Schneidiger? Am schneidigsten? Wenn der Leser ehrlich ist, wird er beim Lesen immer etwas über die Welt erfahren, über die Menschen – und über sich.

STANDARD: Der große Fehler der Reportage ist der Taxifahrer, der den Schreiber vom Flughafen in die Stadt bringt und ihm etwas über das Land erzählt.

Altmann: Ja, der Taxifahrer als Stichwortgeber für faule Reporter.

STANDARD: Wenn man Ihre Biografie abgesehen von "Das Scheißleben meines Vaters ..." liest ...

Altmann: ... der Verlag nennt es nur noch das Scheißbuch.

STANDARD: Ihre Biografie liest sich einerseits wie eine Suche, andererseits wie die klassische Hippiebiografie mit Indien, Guru und so weiter. Wann haben Sie beschlossen, dass die Suche nach Lösungen oder Erlösungen möglicherweise zu einem guten Ende gefunden hat?

Altmann: Ich bin ja in einem bayerischen Kral aufgewachsen, dort gab es keine Drogen. Und Hippiesein hat mich nicht interessiert, ich habe mich nie einer Gruppe, einer Gruppierung angeschlossen. Ich musste, wie jeder übrigens, meinen eigenen Weg finden. Das habe ich während meiner Therapien, dem Leben im Kloster und während der Monate mit Gurus versucht. Ich hatte ja schwerste psychosomatische Schäden, war körperlich behindert in vielen Dingen. Irgendwann ging ich zum Theater und dachte, ich befreie mich, werde berühmt und eine bewunderte Rampensau. Ging ans Residenztheater in München, dann zu Hans Gratzer ans Wiener Schauspielhaus. Und überall blieb ich der mäßig Begabte. Aber über das Tagebuchschreiben wurde mir klar, dass ich mit Sprache umgehen konnte. Sie sollte mich befreien, weil ich jemand sein wollte, einer, der respektiert wird, einer, für dessen Arbeit Leute Geld rausrücken. Keiner meiner Therapeuten hätte mich erlöst von der Drohung, dass ich mein Leben nicht in den Griff bekomme. Nur über das Schreiben entkam ich der Scheiße. Doch, die Therapien haben mir geholfen, das Alltagsgeschäft zu erledigen, die Depressionen zu überstehen, die täglichen Niederlagen. Aber allein das Schreiben zog mich aus dem Dreck. Nichts anderes auf Erden hätte mein Dasein als Versager verhindert.

STANDARD: Sie nennen das in Ihrem Buch: so werden, wie man sein soll.

Altmann: Ja, klar, werden, was in einem angelegt ist. Sauschwer.

STANDARD: Handelt es sich möglicherweise nicht nur um eine Suche nach Erlösung, sondern auch um eine nach Gnade mit sich selbst?

Altmann: Das ist mir zu pompös. Von Gnade weiß ich nichts, gelassen bin ich auch nicht. Ich bin eher gnadenlos mit mir selbst. Henry Miller sagt: "In der Jugend musst du die Waffen schmieden, um dich für das Erwachsenenleben zu wappnen." Das habe ich versucht. Sprache als Wunderwaffe, um mit den Anwürfen, den Bauchlandungen und Arschfotzentagen fertig zu werden.

STANDARD: Für eine glückliche Jugend ist es nie zu spät?

Altmann: Eine glückliche Jugend ist keine Garantie für ein glückliches Erwachsenendasein. Ich kenne viele, die untergegangen sind, obwohl sie es in der Jugend leicht hatten. Wer in der Kindheit gelernt hat, sich zu wehren, der ist besser gerüstet gegen die Gemeinheiten, die jeden von uns erwischen.

STANDARD: Man könnte natürlich auch dagegenhalten, dass es gar keine glückliche Jugend geben kann, weil jede Erziehung in gewissem Sinn schiefgeht.

Altmann: Alle intelligenten, alle sensiblen Frauen und Männer sind beleidigt, weil sie so vielen Dämlichen über den Weg laufen, so vielen Unfreundlichen, Unhöflichen, so vielen Bulldozern, die nicht den Schimmer von Empathie in sich tragen.

STANDARD: Was hat Sie dazu bewogen, Reiseschriftsteller zu werden? Viktor Frankl etwa hat Höhenangst gehabt und ist deshalb Bergsteiger geworden.

Altmann: Ach, Viktor Frankl, einer meiner Helden, nun, er war ein viel klarerer Mensch als ich. Ich kann nicht sagen, dass ich mich fürs Schreiben entschieden habe, ich sage lieber, es war das Einzige, was mir noch blieb. Nachdem ich bei so vielen Versuchen, einen Beruf zu finden, abgestürzt bin. Also, Schreiber und Reisender, das passt mir. Schon als Pfadfinder bin ich davon. Auch, um meinem SS-Alten zu entkommen, den übergriffigen Pfaffen, dem schamlos bigotten Leben im Kral. Und mit knapp 40 habe ich einen Bericht aus China an Geo geschickt, und sie haben ihn gedruckt, und ich wurde Reporter, von null auf supervielbeschäftigt. Bei allen großen Magazinen und Zeitungen, uff, die entscheidende Synapse war geplatzt, ich hatte meinen Platz gefunden: Ich durfte die Welt besichtigen und darüber schreiben und bekam – einsames Hochgefühl – gutes Geld dafür. Und Preise und Anerkennung. Großspurig hatte ich die Jahre über in mein Tagebuch geschrieben, dass ich mich totmache, wenn ich es bis zum 40. nicht schaffe, nichts finde, was mich erfüllt. Ich fand es, ich Glückspilz. Ich wurde Reporter, das ist einer, der zurückträgt, was er gesehen, gehört und gefühlt hat.

STANDARD: Es heißt, Reisen bildet.

Altmann: Wenn einer eine Reise tut, dann hat er was zu verschweigen. Reisen bildet, nun ja, nicht jeden. Ich kenne Leute, die viel reisen und trotzdem Rassisten und Doofköpfe blieben. Ich war gerade in Auschwitz. Ich habe mich so lange davor gedrückt. Reisen darf ruhig anstrengen, und Auschwitz ist extrem anstrengend. Aber hinterher wusste ich ein bisschen mehr über den Wahnsinn in der Welt. Ich will etwas lernen, auch wenn es weh tut.

STANDARD: Das Sich-treiben-Lassen ist Ihnen hier wohl wichtiger als das bildungsbürgerliche Abhaken von Sehenswürdigkeiten?

Altmann: Da ich in Paris lebe, wurde ich mehrmals gebeten, einen Reiseführer darüber zu schreiben. Doch es interessiert mich nicht, Tipps zu geben, wohin zum Schlafen, wohin zum Essen, wohin zum Vögeln. Alles schon veröffentlicht. Nein, ich will Frauen und Männer auf meinen Reisen treffen, die bei mir "beichten", die mir ihre Geschichte erzählen, die mir was vom Leben und von der Welt beibringen. Und ich schreibe sie alle auf und schenke sie weiter – an meine Leser.

STANDARD: Sind Sie über die Jahre beim Reisen vorsichtiger geworden? Gibt es Länder, in die Sie nicht mehr reisen würden?

Altmann: Ich habe ja auch Kriegsreportagen abgeliefert. Und Kollegen, keine zwanzig Zentimeter neben mir, fielen tot um. Mit einer Kugel im Kopf. Ich hatte einfach Glück, sonst gar nichts, war nicht cleverer, nicht gerissener. Heute, in Zeiten des globalen Terrorismus gibt es Landstriche, die betrete ich nicht mehr, die brodeln, dort gehen gerade der Wahn und eine namenlose Grausamkeit um. Meine Unschuld habe ich längst verloren. Zu oft kam ich davon, ein nächstes Mal wird es nicht geben. Jeder hat ein bestimmtes Konto von Glück, doch irgendwann ist es aufgebraucht. Aber nun sind wir alle erschießbar, man muss nicht mehr dafür in den Krieg ziehen. Heute früh dachte ich noch, in der Pariser Metro sitzend: Hey, der Typ sieht verdächtig aus, Rucksack, dicker Bart, sturer Blick, brennende Augen, uff, vielleicht zieht er jetzt die Reißleine und ich versäume das Interview, haha. (Christian Schachinger, Album, 9.4.2017)