János Kertész über Angebote aus Wien und Vilnius, die Central European University (CEU) aufzunehmen: "Es tut gut, das zu hören, aber wir hoffen, in Budapest bleiben zu können."

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Proteste gegen die Gesetzgebung der Regierung Orbán.

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STANDARD: Sie haben Physik mit Komplexitätsforschung verglichen. Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?

Kertész: Es geht in der Physik um die Interaktion von Atomen, in meinem Bereich der Komplexitätsforschung um die Interaktion von Menschen. Wir können zum Beispiel allein durch anonymisierte Daten von Mobilfunknetzbetreibern erkennen, wie in der Gesellschaft interagiert wird. Es gibt Millionen von Nutzern, da kann man soziologische Theorien auf noch nie dagewesenen Skalen verifizieren. Man kann die Dynamik eines solchen Netzwerkes unter die Lupe nehmen und Vorhersagen darüber treffen, wie sich Gerüchte verbreiten. Wir entwickeln auch Modelle über die Entstehung von Fake-News und deren Verbreitung. Eine Erscheinung des Internetzeitalters, die auch damit zusammenhängt, dass viele Menschen nur mehr über Kanäle auf sozialen Netzwerken wie Facebook Nachrichten empfangen und keine Zeitungen mehr lesen, weder gedruckt, noch online. In der eigenen Nachrichtenblase ist man anfällig für jeden Unsinn, für Verschwörungstheorien und Ähnliches.

STANDARD: Das ist jetzt aber nicht wirklich überraschend. Weiß man das nicht auch ohne Forschung?

Kertész: Selbst wenn es wahr ist, dass man irgendwie spüren kann, wie Fake-News entstehen: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Gefühlen und quantitativer Forschung. Die Frage ist: Wie kann man Fake-News identifizieren? Komplexitätsforschung hat viele Anwendungsmöglichkeiten. Jeder weiß, dass ansteckende Krankheiten auch Epidemien auslösen können. Mit den heutigen Methoden kann man aber relativ genau vorhersagen, wo und wann die Krankheit verbreitet wird. Und man kann Maßnahmen dagegen ergreifen. Es geht also nicht nur darum, das Erwartbare mit Tatsachen zu bestätigen, es geht auch darum, in dynamischen Modellen Vorhersagen zu treffen und so einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft zu haben.

STANDARD: Welchen Einfluss haben Fake-News auf die Gesellschaft?

Kertész : Durch Fake-News wie das Leugnen des Klimawandels durch den US-Präsidenten sind die Freiheit der Gesellschaft und damit auch die Freiheit der Wissenschaft gefährdet – und wenn die Wissenschaft gefährdet ist, dann sind es auch die Zukunft und damit die Möglichkeit, mit Ideen und Innovationen aus Krisen herauszukommen. Man sollte diese Bewegungen ernst nehmen, ob das vor unserer Haustür in Ungarn passiert oder in den USA.

STANDARD: Können Sie die Situation in Ungarn beschreiben?

Kertész: Ministerpräsident Orbán sagt, dass Ungarn ein Vorreiter dieser Bewegung sei: Er meint, Europa würde nur über die Rückkehr zum Nationalismus und Illiberalismus gerettet. Es geht nicht mehr um ein Miteinander, um gegenseitige Wertschätzung, das ist hier alles sekundär geworden. Ich finde das furchterregend. Eine dramatische Entwicklung – und wenn Europa sich nicht wehrt, dann könnte Orbán sogar recht haben.

STANDARD: Woran liegt es, dass derartige Populisten einen so starken Zulauf haben? Viele Experten meinen hier, man habe die Ängste der Bürger zu spät ernst genommen. Wie sehen Sie das?

Kertész: Als die Sowjetunion noch existierte und es zwei Wertesysteme gab, die miteinander im Wettbewerb waren, lag der Druck auf den Westen, ein soziales Netz aufzubauen, das dem Osten genauso überlegen war wie die Wirtschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges verschwand dieses Gegengewicht, das soziale Netz im Westen verlor an Stabilität. Das hat dazu beigetragen, dass in der Krise viele den Kürzeren zogen, was dazu führte, dass Massen mittlerweile das Gefühl haben, nicht mehr mitzukommen. Im Osten ist die Situation anders. Es gab früher soziale Sicherheit auf ganz, ganz niedrigem Niveau. Durch die Einführung des Kapitalismus nach der Wende verloren viele den Anschluss, sie wurden ärmer. Dazu kommt in Ungarn eine historische Last, die nie richtig aufgearbeitet wurde. Die Räterepublik, das Horthy-System oder die Tatsache, dass Ungarn letzter Verbündeter von Hitler war.

STANDARD: Wie ist das Klima im universitären Umfeld?

Kertész: Es ist natürlich von einigen Schritten beeinflusst, die das Klima in Ungarn insgesamt schlecht machen. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, die Schulpflicht reduziert. Bildung ist nicht mehr so wichtig. Die gesellschaftliche Mobilität ist sehr niedrig. Massen leben unter der Armutsgrenze. In so einer Situation, in der er die Macht ausüben will, aber nicht mehr alle zufriedenstellen kann, braucht Orbán natürlich Feindbilder. Das ist ein alter Trick der Demagogen. Ein solches Feindbild ist George Soros, der NGOs unterstützt, die für Meinungs- und Pressefreiheit eintreten. Nun werden für die von Soros gegründete Central European University (CEU) unerfüllbare Voraussetzungen geschaffen, um so die Schließung der Universität zu erzwingen. Die CEU ist eine der besten ungarischen Universitäten, die sowohl in den USA als auch in Ungarn akkreditiert ist. Nun verlangt das neue Gesetz, dass die CEU in New York einen Campus schafft – und zwar bis Jänner 2018 –, ansonsten muss sie zusperren.

STANDARD: Ist das alles, was die ungarische Regierung verlangt?

Kertesz: Gleichzeitig soll ein bilaterales Abkommen zwischen den USA und Ungarn über die CEU abgeschlossen werden, was Nonsens ist, da Bildung kein föderales Thema in den USA ist. Der Angriff ist ein empörender Racheakt. Er geht gegen die akademische Autonomie, gegen die Freiheit der Wissenschaft und gegen die Vereinbarung, die die Universität ja mit Ungarn getroffen hat – noch vor Orbán. Auch ihn selbst hat sie jahrelang nicht gestört. Übrigens geht das Gesetz auch gegen das Grundgesetz von Ungarn, in dem Freiheit und Autonomie von Wissenschaft und Bildung verankert ist.

STANDARD: Gibt es noch eine Chance, die Schließung der CEU zu verhindern, obwohl das Gesetz beschlossen wurde?

Kertész: Alle Gesetze müssen vom Staatspräsidenten unterschrieben werden. Theoretisch gibt es die Chance, dass er ablehnt. Praktisch ist er ein Verbündeter Orbáns und wird das nicht tun. Es gibt auch die Chance, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Hier sitzen zwar auch viele Parteifreunde Orbáns, aber auch andere. Und zuletzt müsste man den Europäischen Gerichtshof in Straßburg damit konfrontieren. Unser Rektor hat jedenfalls angekündigt, nicht aufgeben zu wollen.

STANDARD: Ist vorstellbar, die CEU von Budapest nach Österreich zu verlegen? Der Vorsitzende der Universitätenkonferenz, Oliver Vitouch, hat das als Option genannt.

Kertész: Es tut gut, das zu hören, auch aus Vilnius kam eine Einladung. Wir hoffen aber natürlich, in Budapest bleiben zu können.

STANDARD: Wie geht es Ihnen selbst in Ungarn, da Sie die Konfrontation mit der Regierung Orbán nicht scheuen?

Kertész: Um mich mache ich mir keine Sorgen. Ich habe eine gute Position, ich bin Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Es gibt aber viele junge Kollegen, die sich nicht mehr trauen, offen ihre Gedanken auszusprechen. Und das erinnert mich an schlimme Zeiten in meiner Jugend in den 1960er- und 1970er-Jahren.
(Peter Illetschko, 6.4.2017)