Lebedews Fotos entstanden auf seinen Recherchereisen: Sie spiegeln Erlebtes wider – sowie die Historie zweier Länder und Kulturen, die durch eine tragische Geschichte miteinander verbunden sind.

Foto: Sergej Lebedew

Seine Arbeit führte ihn von Moskau, Leipzig und Berlin bis zur Wolga und zum Nordkaukaus.

Foto: privat

Lebedews Fotos entstanden auf seinen Recherchereisen: Sie spiegeln Erlebtes wider – sowie die Geschichten zweier Länder und Kulturen, die durch eine tragische Geschichte miteinander verbunden sind.

Seinen vierten Roman hat Sergej Lebedew soeben als Gast der Stadt Graz vollendet, wo er bis Ende März als "Writer in Exile" gelebt hat. Das Werk mit dem Arbeitstitel Tramway zur Hufelandstraße handelt von dem deutschen Arzt und Homöopathie-Pionier Julius Schweikert, der 1876 in Moskau starb. Lebedew, 1981 ebendort geboren, hat selbst teils deutsche Wurzeln, die er in seinen Recherchen zur jüngeren russischen Geschichte entdeckte. Sein schonungsloser Blick auf die postsowjetische Gesellschaft hat Lebedew nicht nur dem Kreml verdächtig gemacht. Der Roman Menschen im August ist zuerst 2015 auf Deutsch erschienen und fand erst im Vorjahr einen russischen Verleger.

Lebedew hat außerdem vor fünf Jahren begonnen, seine russisch-deutsche Familiengeschichte im Kontext des Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland im 19. und 20. Jahrhundert zu erforschen. Nur zufällig hat er vom deutschen Zweig der Familie erfahren. Diese Herkunft wurde streng geheim gehalten, da sie zu Sowjetzeiten einem Todesurteil gleichkam. Neben der Familiengeschichte beschäftigten ihn auch deutsche Idealisten und Missionare, die wie sein Vorfahre Julius Schweikert ein neues, gelobtes Land in Russland zu finden hofften, sowie das Schicksal der Russlanddeutschen, die 1941 als Feinde nach Kasachstan deportiert wurden.

STANDARD: Gibt es so etwas wie die russische Seele?

Lebedew: Ich glaube nicht. Vielleicht eine russische Denkweise, Mentalität. Aber nicht eine Seele. Es ist heute überhaupt problematisch zu verstehen, was "russisch" ist. Besser, man spricht von "postsowjetisch". Die russische Sprache ist gleichzeitig die postsowjetische Sprache, stark geprägt durch die sowjetische Erfahrung. Also vielleicht gibt es so etwas wie eine postsowjetische Seele: nostalgische Gefühle, verlorene Identität, der Wunsch, in dieses "goldene Zeitalter" zurückzukehren.

STANDARD: Die in Wien lebende russische Pianistin Elisabeth Leonskaja glaubt an die Existenz der russischen Seele. In einem Interview meinte sie, die Essenz der russischen Seele sei es, frei zu sein. Ihr Zustand sei unabhängig von Äußerlichkeiten, vielleicht weil die Russen aus ihrer Geschichte heraus an schwierige Umstände gewöhnt seien.

Lebedew: Das Einzige, worin ich zustimme, ist, dass die Russen an schwierige Umstände gewöhnt sind. Aber ich glaube nicht, dass deren Auswirkung irgendeine Art innerer Freiheit ist. Nach der Annexion der Krim vor zwei Jahren verschlechterte sich der Lebensstandard in Russland innerhalb weniger Monate. Trotz des wirtschaftlichen Drucks identifizierten sich die Leute mit der Regierungspropaganda als einer Art symbolischer Entschädigung. Sie tauschen Freiheit, die Idee Demokratie leichten Herzens gegen diesen symbolischen Ersatz: die Idee, dass Russland wieder groß ist – auch dank Trump. Es sind Illusionen nach dem Prinzip: Stellen wir die Russen als Freiheitsliebende im Stil Tolstois dar. Als Kunstwerk ist das gut.

STANDARD: Die Einbildung ist also stärker als die Realität.

Lebedew: Es ist nicht nur Einbildung. Das lange Leben in der späten Sowjetkultur erzeugte sehr ausgeklügelte Strategien, jeden direkten Kontakt mit dem Staat zu vermeiden. Die Leute waren gewöhnt an diese Grauzonen, wo sie nicht vom Auge des Staates überwacht wurden, wo sie Schwarzgeld verdienen konnten etc. Direkten Protest gab es nicht, alles drehte sich ums Vermeiden. Gleich vom Beginn der Herrschaft Putins an praktizierten die Menschen genau diese Strategie: jeden direkten Zusammenstoß zu vermeiden.

STANDARD: In Putins dritter Amtsperiode begann seine Popularität dann aber deutlich zu sinken.

Lebedew: Vor der Krim-Annexion sanken Putins Umfragewerte ununterbrochen. Danach erreichten sie in wenigen Monaten höhere Werte als jemals zuvor. Das heißt, Putin gewann zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung, die ihn zuvor nie unterstützt hatten. Die kollektive Illusion zog sogar viele an, die Putin kritisch gegenüberstanden. Die Rückbesinnung auf das Imperium und die Geschicklichkeit im Protestvermeiden – beides zusammen ergibt diese Mentalität des doppelten Denkens.

STANDARD: Putin kennt also die Psychologie seines Volkes genau und spielt darauf Klavier.

Lebedew: Ich würde sagen, ja. Zugleich sind Putin und seine Entourage in ideologischer Hinsicht absolut zynisch. Sie holen sich Symbole aus unterschiedlichen Epochen der russischen Geschichte nach einem einzigen Kriterium: Funktioniert es? Ein Beispiel: Derzeit beuten sie die Sowjet-Nostalgie aus. Gleichzeitig nennen sie ihre Partei "Vereinigtes Russland". Aber "Vereinigtes Russland" war das Motto der Weißen im Bürgerkrieg (nach der Machtergreifung der Bolschewiken 1917, Anm.). Iwan der Schreckliche? Okay. Nikolaus II.? Okay. Stalin? Okay. Sie sind superflexibel und in gewisser Weise supereffektiv.

STANDARD: Viele Russen fühlen sich vom Westen unverstanden. Warum?

Lebedew: Auch hier geht es um diese Strategie des Vermeidens. Sehr wenige Russen würden sagen: Wir sind verantwortlich für das, was passiert. Wir können zwar nichts dagegen tun, wir können Putin nicht stürzen, aber wir sind mitverantwortlich für die Annexionen, für die Beteiligung am Krieg in Syrien, und zwar nicht nur moralisch. Wenn Menschen nicht dazu bereit sind, erfinden sie Erklärungen: Wir, die armen Russen, die der Westen nicht versteht – das ist nur eine Strategie, der Verantwortung auszuweichen.

STANDARD: Der russische Soziologe Simon Kordonsky, der Reden für Putin in dessen erster Amtszeit als Präsident schrieb, sagt: "Unser Land kennt keine Zukunft. Wir haben nur eine Gegenwart, und die besteht aus der Reproduktion einer guten Vergangenheit. Welcher, das ist nicht klar." Stimmen Sie zu?

Lebedew: Mehr oder weniger. Die Hauptfundamente unserer Identität liegen in der Vergangenheit. Wir beuten noch immer Symbole wie den Sieg im Zweiten Weltkrieg aus, wir sind alle die großen Söhne der Sieger, wir wollen noch immer etwas vom großen Kuchen des sowjetischen Ruhms haben. Die Geschichtsschreibung im modernen Russland wird auf absolut gleiche Weise zensiert wie in der Sowjetunion. Der letzte Krieg in Tschetschenien vor zehn, fünfzehn Jahren? Nichts, keine Bücher, keine Filme, keine Romane, keine Dokumentationen. Die Sowjets hatten eine Art von zukunftsgerichteter Vorstellung. Heute sind wir komplett rückwärtsgewandt. Die staatlichen Dokumente verteidigen allesamt Traditionen, russische Werte und Moralvorstellungen. Das Wort Zukunft kommt überhaupt nicht vor.

STANDARD: Offensichtlich mit gutem Grund.

Lebedew: Die Zukunft wirft Fragen auf: Was ist diese Russische Föderation, was sind ihre Prinzipien der Koexistenz von Regionen, Nationen, Religionen? Heute sind diese Prinzipien absolut autokratisch. Keine Region, keine Stadt hat irgendeine Art von Unabhängigkeit. Das sind wichtige humanitäre Fragen. Aber sie werden blockiert. Was ich hier sage, ist nach russischem Strafrecht ein Verbrechen: die Integrität der Russischen Föderation zu diskutieren. Aber je länger wir diese Frage aufschieben, desto höher wird der Preis, den wir dafür zahlen.

STANDARD: Sie sagen, es gibt keine Romane, die sich mit den Tschetschenien-Kriegen befassen. Kritisieren Sie damit auch die zeitgenössische russische Literatur?

Lebedew: Das Drama von 1991 (der Zusammenbruch der Sowjetunion, Anm.) – nichts. Zwei Kriege in Tschetschenien – nichts. Putins Aufstieg zur Macht – nichts. Tschernobyl – nichts. Der Afghanistan-Krieg – nichts. Alles, was unsere Literatur macht: Sie versucht, irgendetwas zu schreiben, aber nicht an diese riesigen Dinge zu rühren. Dostojewski las die Zeitungen, stieß auf ein Thema und schrieb etwas dazu in wenigen Monaten. Aus irgendeinem Grund verlor unsere Literatur die Mission, den Lesern Orientierung zu geben.

STANDARD: Aber es gibt doch auch Ausnahmen.

Lebedew: Natürlich. Anna Politkowskaja (ermordet 2006, Anm.) schrieb als Einzige Bücher über den Tschetschenien-Krieg. Sie schrieb als Journalistin, aber die Bücher sind reine Prosa. Und Swetlana Alexijewitsch (Literaturnobelpreis 2015 für ihre Gespräche mit Russinnen und Russen als Bestandsaufnahme der postsowjetischen Gesellschaft, Anm.). Sie bereitete das Feld für alles Nachfolgende auf. Politkowskaja wurde als leicht verrückt hingestellt: Warum macht sie so viel Aufhebens um diesen Krieg, das Leben besteht nicht nur daraus. Und als Alexijewitsch den Nobelpreis erhielt, hieß es: Das ist ja nur Journalismus, sie schlachtet diese Themen aus, das ist alles überholt, wir wissen längst alles darüber. Es gibt jetzt zwei neue Romane über den Gulag. Und es ist sehr bezeichnend, wie die Autoren mit dem Thema umgehen: Es war ja nicht ganz so tragisch, es gab auch gute Menschen in dem System, man konnte überleben. Ja, man konnte überleben. Aber die Grundtendenz geht dahin, die Tragödie zu verkleinern: Macht gute Literatur, unterhaltet uns, aber bringt uns nicht in eine Lage, in der wir uns der Realität stellen und über unsere Verantwortung nachdenken müssen. Verantwortung – darum dreht sich alles.

STANDARD: Worin sehen Sie die grundlegenden Unterschiede zwischen der russischen Gesellschaft und westlichen Gesellschaften?

Lebedew: Äußerlich werden Sie heute zwischen Berlin und Moskau keine Unterschiede feststellen. Aber auf der einen Seite sagen die Leute in Russland: Wir brauchen nichts vom Westen. Gleichzeitig tragen sie westliche Kleidung, lesen westliche Bücher, schauen westliche Filme und sprechen in westliche Handys. Da haben wir wieder dieses doppelte Denken. Ich stimme nicht mit allen Ansichten im Westen überein. Aber bei meinen Aufenthalten hier habe ich nie dieses intensive doppelte Denken erfahren, wie es im russischen Leben die Norm ist. Ein weiterer großer Unterschied ist eine Tendenz zu Gewalt und Aggression, im Gegensatz zu den europäischen Werten, die das Leben betonen und auf Versöhnung ausgerichtet sind. In Russland haben wir noch immer eine männliche, aggressive Kultur, die Konflikte vorzugsweise mit Waffen lösen will. Das ist gefährlich und nicht vielen in Europa bewusst: Friede ist kein Ziel, es ist nicht das, was wir bekommen wollen. (Joe Kirchengast, Album, 1.4.2017)