Wien – Bei der Grunddiagnose ist sich die Regierungsspitze ausnahmsweise nicht ganz uneinig. Mit der Entwicklung der EU ist man unzufrieden. ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner warnte vor dem "Irrweg" in Richtung vertiefter Sozialunion.

Kanzler Christian Kern deponierte zuletzt im STANDARD-Interview, dass man vor der Osterweiterung wohl zu optimistisch gewesen sei. Die erhofften größeren Lohn- und Gehaltssprünge seien in den Nachbarländern ausgeblieben. Das "massive Lohngefälle" führe zu Verzerrungen, die den Arbeitsmarkt "massiv belasten". Gemeint ist: In Österreich arbeiten heute um 215.000 mehr Osteuropäer als noch vor acht Jahren.

Schlechterstellung

Reagieren wollen SPÖ und ÖVP punktuell mit einer Schlechterstellung von Arbeitskräften aus den Nachbarländern. Beim geplanten Beschäftigungsbonus sollen nach Möglichkeit bereits in Österreich lebende Arbeitskräfte gefördert werden. Bei der Familienbeihilfe geht es um Kürzungen für im Ausland lebende Kinder, weshalb Ungarn bereits mit Gegenmaßnahmen gedroht hat. Die Schlagworte "Österreich zuerst" machten wiederholt die Runde.

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In Bulgarien verdienen Arbeitskräfte heute im Schnitt fast drei Mal so viel wie noch im Jahr 2005.
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Osteuropa nicht Osteuropa

DER STANDARD nimmt die Diskussion zum Anlass, um die Einkommensentwicklung in ausgewählten EU-Nachbarländern näher zu beleuchten. Verlief sie bisher tatsächlich so enttäuschend?

Zunächst gilt wieder einmal: Osteuropa ist nicht Osteuropa. Die mit Abstand niedrigsten Einkommen gibt es in den 2007 der Union beigetretenen Ländern Bulgarien und Rumänien. Laut Daten des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) lag der Bruttodurchschnittslohn für eine Vollzeitstelle in Bulgarien im Vorjahr bei umgerechnet 491 Euro. Das sind nicht einmal 14 Prozent des österreichischen Niveaus. In Rumänien waren es 642 Euro (18,1 Prozent des heimischen Niveaus).

Diese Grafik zeigt die Einkommensentwicklung im prozentuellen Vergleich zu Österreich:

Große Unterschiede

Die Unterschiede sind also noch immer enorm. Das heißt aber nicht, dass sich nichts getan hätte. Ganz im Gegenteil: Seit 2005 sind die Löhne und Gehälter in Bulgarien um fast 200 Prozent gestiegen, in Rumänien sind sie immerhin noch 140 Prozent. Zum Vergleich: In Österreich haben sie im gleichen Zeitraum nur um 31 Prozent zugelegt – zuletzt verdiente eine Vollzeitkraft im Schnitt 3550 Euro brutto (um die Daten vergleichen zu können, wurden 14 Gehälter umgerechnet auf zwölf Monate).

Die Problemfälle

Ganz anders sieht die Dynamik allerdings in Ungarn und Slowenien aus. In diesen direkt an Österreich angrenzenden Staaten, die 2004 der EU beitraten, fiel der Einkommenszuwachs in etwa gleich schwach wie hierzulande aus. Die Lücke – Slowenen verdienten zuletzt knapp 45 Prozent eines Österreichers, Ungarn 24 Prozent – hat sich also kaum geschlossen. Ähnlich verhält es sich mit dem 2013 beigetretenen Kroatien, wo die Kluft sogar größer wurde.

Als dritte Gruppe kann man die ebenfalls 2004 beigetretenen Staaten Tschechien, die Slowakei und Polen zusammenfassen. Hier gab es seit 2005 deutlich stärkere Zuwächse als in Österreich (60 bis 100 Prozent), aber eben auch nicht ganz so starke wie in Bulgarien und Rumänien.

Konjunktureinbrüche

Die Gründe für die unterschiedlichen Entwicklungen sind vielfältig, wie WIIW-Ökonom Mario Holzner meint. Ungarn hatte schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die ab 2009 zu massiven Konjunktureinbrüchen führte, Probleme. Slowenien, das lange Zeit als Musterschüler galt, kämpfte in den vergangenen Jahren mit massiven Bankenproblemen und entging Ende 2013 nur knapp dem Eurorettungsschirm. Kroatien hat es am schlimmsten erwischt. Das Land befand sich ab 2009 in sechs aufeinanderfolgenden Jahren in einer Rezession.

Die relativ konstant positive Entwicklung in der Slowakei und in Tschechien hängt unter anderem mit den hohen Auslandsinvestitionen zusammen, die sich in einer starken Automobilindustrie widerspiegeln. Polen wiederum blieb ganz von Rezessionsjahren verschont. Eine Erklärung, die WIIW-Experte Holzner dafür liefert: Der Landwirtschaftssektor, der in Polen noch recht groß ist, blieb von Preisstürzen weitgehend verschont.

Krise dämpfte Prozess

Was sich aber pauschal schon sagen lässt: Der Aufholprozess der neuen EU-Mitglieder wurde durch die Finanzkrise deutlich verlangsamt. Zwar wachsen sie nun wieder stärker als der Euroraum, aber auf einem niedrigeren Niveau als vor 2009. Insofern rechnet Holzner in den kommenden Jahren damit, dass die Abstände zu Österreich wieder etwas kleiner werden, aber eben nur langsam. Was er positiv hervorstreicht: Vor allem im Bereich der Mindestlöhne hat sich zuletzt einiges in Osteuropa zum Positiven entwickelt. Abgesehen von Kroatien sind sie laut Eurostat überall deutlich stärker gestiegen als die sonstigen Löhne und Gehälter.

Die Hoffnung, dass die Nachbarländer in Bälde auf das österreichische Niveau kommen könnten, ist freilich auch illusorisch. Als Faustregeln nennt Holzner: Die meisten Länder brauchen um die 30 Jahre, um die Hälfte der Lücke aufzu holen. Und: Je wohlhabender die Nachbarn werden, desto langsamer geht es. "Am schwierigsten ist es, die letzten Meter zu machen." (Günther Oswald, 30.3.2017)