Adolf Lorenz, "Ich durfte helfen".

€ 24,–/448 Seiten. Czernin Verlag, Wien 2017.

Adolf Lorenz mit 80 Jahren, als er an seiner Autobiografie arbeitete.

Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Wien – Fällt der Name Lorenz im Zusammenhang mit Wissenschaft, so denken heute die meisten Österreicher vermutlich an den Verhaltensforscher. Schließlich war Konrad Lorenz der bislang letzte Österreicher, der einen wissenschaftlichen Nobelpreis erhielt. Seine populären Tierbücher, sein Engagement für den Umweltschutz, zuletzt aber auch seine Verstrickungen in den Nationalsozialismus halten seinen Namen bis heute präsent und überstrahlen den seines Vaters Adolf Lorenz deutlich.

Die letzte gemeinsame Aufnahme von Konrad Lorenz und seinem Vater Adolf im Jahr 1943. Der Orthopäde prägte die umstrittenen Haltungen seines Sohns in eugenischen Fragen.
Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Dass sein Sohn einmal berühmter werden sollte, als er selbst, hätte sich Lorenz Senior freilich bis zum Ende seines langen Lebens nicht träumen lassen, obwohl er erst 1946 mit fast 92 Jahren starb. Adolf Lorenz war nämlich nicht nur Mitbegründer der Orthopädie. Er war ein echter medizinischer Superstar, der nicht nur in Österreich, sondern vor allem auch in den USA höchste Popularität genoss und von 1904 bis 1933 immerhin acht Mal für den Medizinnobelpreis nominiert wurde.

Neuausgabe der Autobiografie

In den nun neu aufgelegten Lebenserinnerungen des Seniors, die 1937 unter dem Titel "Ich durfte helfen" erstmals erschienen, kommt der Junior nur als etwas schrullige Randfigur vor: Der "Amerikaner" (da unmittelbar nach dem ersten USA-Aufenthalt des Vaters gezeugt) habe sich als Tierpsychologe einen Namen gemacht, schreibt sein Vater, der den Forschungen seines Sohns aber höchst skeptisch gegenüberstand: Es sei doch ziemlich gleichgültig zu wissen, ob die Wildgänse gescheiter oder dümmer sind, als man bisher geglaubt habe.

Das erste Foto, das den gerade geborenen Konrad Lorenz 1903 mit seinem Vater, seiner Mutter und dem älteren Bruder Albert zeigt.
Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Doch es sind nicht die ohnehin spärlichen Bezüge zu Konrad Lorenz, warum die Autobiografie seines Vaters 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung ein einzigartiges Dokument ist: Sie gibt nicht nur Zeugnis von einer einmaligen Medizinerkarriere und einer höchst originellen Persönlichkeit. In diesem Leben ist auch das Schicksal Österreichs über fast ein Jahrhundert lang gespiegelt; zudem erzählt Lorenz aus den USA vor dem Aufstieg zur Weltmacht – und aus der Geschichte der Medizin in Wien zu ihrer besten Zeit.

Ende 2016 erst bezeichnete das britische Wirtschaftsmagazin "Economist" das Wien um 1900 als "The City of the Century", dessen geistigen Hervorbringungen die weitere Entwicklung des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt haben. Auch in diesem Überblick über die Wiener Moderne wurden die Medizin und die Naturwissenschaften einmal mehr weitgehend ausgespart.

Aus bitterarmen Verhältnissen

Gerade auch am Beispiel von Adolf Lorenz, der 1854 in eine arme Familie eines Sattlermeisters in Weidenau (dem heutigen Vidnava in Tschechien) geboren wurde, zeigt sich, wie eng die beiden Kulturen – also die literarisch-künstlerische und die wissenschaftlich-medizinische Intelligenz – im Wien rund um 1900 verflochten waren und gerade diese wechselseitigen Befruchtungen zur einstigen Blüte Wiens beitrugen.

Adolf Lorenz konnte zwar nur durch Zufall das Gymnasium besuchen und verdiente sich sowohl die Matura wie auch sein Medizinstudium durch Nachhilfestunden. Durch seine Heirat mit Emma Lecher, der Tochter des Chefredakteurs der "Presse" und Präsidenten des Presseclubs Concordia, hatte er dann aber auch enge Kontakte zur Literatenszene des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Richard Engländer und Peter Altenberg

Schriftsteller wie Peter Rosegger und Karl Schönherr waren regelmäßig zu Gast, aber auch der angehende Dichter Richard Engländer, der später als Peter Altenberg berühmt wurde. Altenberg verdanke seinen neuen Namen dem Emmas Schwester und dem Domizil der Lechers und später dem von Adolf Lorenz: Der Dichter verliebte sich nämlich in Bertha, die von ihren Geschwistern "Peter" gerufen wurde. Ort des Geschehens war Altenberg bei Wien – et voilà.

Während Altenbergs Liebe zum Scheitern verurteilt war, machte Emma Lorenz mit dem aufstrebenden und frisch habilitierten Mediziner eine gute Partie. Zunächst freilich sah es mit dessen Chirurgenkarriere gar nicht gut aus: Adolf Lorenz entwickelte eine Allergie gegen Karbolsäure, die damals zur Desinfektion verwendet wurde.

Rettung aus der Malaise

Wie oft in seinem turbulenten Leben machte er das Beste aus der Malaise: Er sattelte auf die "trockene" Chirurgie um und wurde zum Orthopäden, der vor allem mit Gips arbeitete. Anfang der 1890er Jahre gelang ihm dann ein Durchbruch bei der Behandlung der angeborenen Hüftluxation, die damals unweigerlich zu lebenslangen Behinderungen führte.

Adolf Lorenz fixierte Patienten im Kindesalter einige Monate lang in einer speziellen Stellung, was zur Heilung führte. Das damals revolutionäre Verfahren war zwar lange umstritten. Doch mit den 1895 entdeckten Röntgenstrahlen, die in Wien früh zu medizinischen Zwecken eingesetzt wurden, konnte gezeigt werden, dass die Operation funktionierte.

Adolf Lorenz umringt von Kindern, deren angeborene Hüftluxationen er erfolgreich behandelt hatte und die er als lebende Beweise zu medizinischen Tagungen mitnahm.
Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Superstar dank Lolita Armour

Bald hatte Lorenz Patienten aus der halben Welt, und er war auch gefragter Arzt in europäischen Königshäusern. Zum Superstar wurde er dann allerdings Ende 1902 durch die Operation an der US-Millionärstochter Lolita Armour, die er gegen ein fürstliches Honorar (75.000 Dollar sind heute rund zwei Millionen Euro wert) in Chicago erfolgreich behandelte.

Während der zehn Wochen, die Lorenz in den USA war und auch gratis arme Kinder operierte, erschienen mehr als tausend Zeitungsartikel über sein segensreiches Wirken – vermutlich ist über keinen anderen Österreicher in so kurzer Zeit je so viel Positives in den USA berichtet worden wie damals über ihn.

Ausschnitte aus zwei der zahllosen Zeitungsberichte über Lorenz' Operation der Millionärstochter Lolita Armour, die ihn zum Star machte.
Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Lebemann und Wohltäter

Das viele Geld, das Lorenz während und nach der Reise verdiente, steckte er unter anderem in seine palastartige Villa in Altenberg. Außerdem war er einer der ersten Motorrad- und Autobesitzer Österreichs.

Der Orthopäde blieb aber stets auch ein Wohltäter für die Ärmsten. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete er sogar einen nach ihm benannten Fonds für bedürftige Kinder und Studenten ein. Dabei hatte Lorenz nach 1918 selbst sein gesamtes Vermögen verloren. Das wiederum machte es nötig, dass er nach seinem 70. Geburtstag über zehn Jahre lang die Winter operierend in New York verbrachte, wo er auch Ehrenbürger war.

Adolf Lorenz in den 1930er Jahren in New York mit seinem medizinischen Personal.
Foto: Archiv des Adolf-Lorenz-Vereins

Aufgrund seiner Beliebtheit in den USA veröffentlichte Adolf Lorenz, der nebenbei Gedichte und Theaterstücke schrieb, 1936 seine Autobiografie zunächst auf Englisch, ein Jahr später erst auf Deutsch.

Ein irritierendes Kapitel

In dieser Ausgabe gibt es freilich auch ein etwas irritierendes Kapitel, das den Titel "Die Hilfe für die Krüppel" trägt und Unterstützung für eugenische Maßnahmen enthält. Sterilisierungsgesetze wurden damals nicht nur in Deutschland beschlossen, sondern zuvor auch in den USA oder Schweden. Doch das NS-Gesetz zur Verhinderung von erbkranken Nachwuchs 1933 war das radikalste seiner Art.

Diese verstörenden Passagen in Lorenz' Buch tragen nicht nur zur besseren Kontextualisierung der eugenischen "Verirrungen" und NS-Anbiederungen seines Sohns Konrad bei. Sie machen auch verständlich, was Konrad Lorenz meinte, als er später einmal sagte: "Ich bin durch Vererbung von Eugenik besessen." (tasch, 30.3.2017)