Wien – Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) hat am Dienstag seinen Brief an Jean-Claude Juncker, den Präsidenten der Europäischen Kommission, formuliert, in dem er darlegt, warum Österreich auch weiterhin keine Flüchtlinge aus dem Relocation-Programm der EU übernehmen wolle. Kern betont darin mehrfach die europäische Solidarität, zu der sich auch Österreich bekenne.

Der Brief von Christian Kern an Jean-Claude Juncker, Seite 1.

Dann kommt allerdings die Einschränkung: Österreich habe sich bereits ausreichend solidarisch gezeigt und gemessen an der Einwohnerzahl viermal so viele Erstanträge für Asylverfahren registriert wie Italien oder zweieinhalb so viele wie Griechenland. "Vor diesem Hintergrund ist Österreich zur Auffassung gelangt, dass im Sinne des Grundsatzes der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeit unter den Mitgliedstaaten eine Beteiligung Österreichs an der Umsiedlung zugunsten Italiens und Griechenlands im Sinne der europäischen Solidarität nicht gerechtfertigt ist."

"Lieber Jean-Claude"

Österreich strebe daher weiterhin eine Aussetzung des Umsiedlungsprogramms an. Den "lieben Jean-Claude" ersucht Kern darum, diese Sichtweise der Europäischen Kommission darzulegen. Er würde dies gerne auch persönlich erörtern.

Wie das Kanzleramt der APA bestätigte, ist es am Dienstag auch bereits zu einem Gespräch zwischen Kern und Juncker gekommen. Das Magazin Politico berichtete am Mittwoch, es könnte eine Lösung unter dem Titel "flexible Solidarität" herauskommen.

Der Brief von Christian Kern an Jean-Claude Juncker, Seite 2.

Im Ministerrat, der diesem Brief vorangegangen war, hatte Kern noch versucht, die offen zu Tage getretene Disharmonie mit der ÖVP wegzulächeln; ganz gelingt es ihm nicht. Kern argumentiert, dass Österreich seiner 2015 übernommene Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen, ohnedies übererfüllt habe und daher nicht auch noch jene knapp 2.000 aufnehmen könne, zu deren Übernahme man sich verpflichtet hat.

Das entspricht nach Ansicht des Koalitionspartners und vieler Experten aber nicht europäischem Recht. Kern sagt, er wolle kein "Agent provocateur" sein, der EU-Sanktionen provoziere. "Wir haben europäisches Recht zu akzeptieren." Aber er wolle "unseren Rechtsstandpunkt darlegen" – in der Hoffnung, dass dieser akzeptiert werde: "Wir glauben, dass alle ihre Verpflichtungen wahrnehmen müssen, wir glauben auch, wir haben das getan."

Gleich darauf trat ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner ans Mikrofon und stellte klar, dass er für Kerns Vorgangsweise wenig Chancen sieht: "Ich glaube nicht, dass das gelingen kann." Dabei ist die Linie der ÖVP ähnlich der des Kanzlers. In ihrem "Aktionsplan Asyl" von 2015 steht zwar: "Seit Beginn der Flüchtlingskrise setzen wir uns vehement für eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas ein, um diese Herausforderung bewältigen zu können. Klar ist, dass es europäische Lösungen und einen gesamthaften Schulterschluss braucht. Solidarität muss für alle Länder und in alle Richtungen Gültigkeit haben."

"Wendehals"

In der momentanen Situation aber heiße das, dass Österreich bereits solidarisch genug gewesen ist. Andererseits sei es eben Verpflichtungen eingegangen, eine Diskussion darüber sei überflüssig, sagt etwa Finanzminister Hans Jörg Schelling, denn Österreich habe einer Umverteilung dreimal zu gestimmt. Und Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter bedachte des Kanzlers politische Verrenkungen mit dem französischen Begriff "tourner le cou", was diesen zum "Wendehals" stempelt.

Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil in der "ZiB 2" zur Relocation-Vereinbarung.
ORF

ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka verwies darauf, dass Kern erst in der Vorwoche davon gesprochen habe, dass alle Länder ihre Verpflichtungen einzuhalten hätten, man müsse Sanktionen "gegen das Regime in Polen, so hat er das genannt", erwägen. Nun wisse er nicht, ob Kern auch Sanktionen für Österreich wolle. Lopatka über Kern: "Er ist umgefallen, meines Erachtens in die richtige Richtung." Die ÖVP malt dennoch ein Vertragsverletzungsverfahren an die Wand. Staatssekretär Harald Mahrer meint: "Wichtig ist, dass wir am Schluss nicht von Sanktionen betroffen sind, obwohl wir solidarisch sind."

Eine Sprecherin der EU-Kommission hielt am Dienstag fest: "Nun wird von Österreich erwartet, seine Verpflichtungen vollständig im Rahmen der Relocation umzusetzen." (Michael Völker, Conrad Seidl, 28.3.2017)