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Im Meer setzen nicht nur Fische, Krebse oder Korallen Taurin frei, sondern auch das Phytoplankton. Die Substanz könnte ein wichtiger Nährstoff der Tiefsee sein und dort das Bakterienwachstum ankurbeln.

Foto: Picturedesk / FLPA / DP Wilson

Wien – Die Adria bei Rovinj lädt fürwahr zum Baden ein. Das Wasser ist kristallklar wie fast überall an der kroatischen Küste. Problemlos kann der Blick einige Meter tief bis zum Boden spähen – vorausgesetzt natürlich, die See ist ruhig. Doch was so rein wirkt, als wäre es gerade aus einer Quelle gesprudelt, gleicht in Wahrheit eher einer Art Bouillon. Nein, keine Verschmutzung, alles ganz natürlich. Meerwasser enthält schließlich Unmengen an Leben und schier unzählige verschiedene Substanzen. Eine davon kennt man als gängigen Bestandteil angeblich beflügelnder Limonade: Taurin.

Der Stoff ist nichts Exotisches. Taurin gehört zu den Aminosulfonsäuren und kommt in der Natur reichlich vor. "Beim Menschen ist es vor allem im Gehirn und in der Herzmuskulatur sehr präsent", sagt die Biologin Eva Sintes von der Universität Wien. Über die Funktionen der relativ kleinen Moleküle hat die Wissenschaft noch keinen vollständigen Überblick. Sie scheinen bei der Signalübertragung zwischen Nervenzellen eine Rolle zu spielen. Gleichzeitig wird der Substanz eine Wirkung als Antioxidans in der Abwehr anderer, aggressiver Chemikalien zugesprochen.

Dankbare Abnehmer

Viele Organismen, darunter auch der Homo sapiens und zahlreiche Wasserbewohner, stellen ihr eigenes Taurin her. Zum Teil fällt es als Abfallprodukt beim Abbau giftiger Schwefelverbindungen an, wie Sintes erläutert. Was der Körper an Taurin nicht mehr verwerten kann, wird ausgeschieden. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende.

Im Meer setzen Fische, Krebse, Weichtiere, Korallen und sogar einzellige Algen, das Phytoplankton, täglich Taurin frei. Mit Blick auf die enorme Anzahl dieser Geschöpfe, ihre gewaltige Biomasse, müsste auch die Menge der Aminosulfonsäure beeindruckend sein. Konkrete Zahlen liegen dazu allerdings kaum vor. Die höchsten Konzentrationen, circa 2,5 Mikrogramm pro Liter, wurden bisher im Nordatlantik und in der Ostsee registriert. Anderswo tritt Taurin hingegen nur in Spuren auf. Kaum nachweisbar.

Solche Messungen haben jedoch nur begrenzte Aussagekraft, denn möglicherweise verschwindet ein Großteil des Stoffs genauso schnell, wie er produziert wird. Dankbare Abnehmer gäbe es genug. Molekularbiologischen Studien zufolge verfügen diverse Bakterien und Archäen – eine urtümliche Einzellergruppe – über spezielle Mechanismen für die Aufnahme von Taurin (vgl. ISME Journal, Bd. 6, S. 1883).

Sie könnten es zur Energiegewinnung nutzen oder als Quelle organischen Kohlenstoffs, vermutet Eva Sintes. Abgesehen davon enthält Taurin auch Stickstoff und Schwefel. Wertvolles Rohmaterial für den mikrobiellen Metabolismus.

Sintes will herausfinden, welche ökologische Bedeutung die Substanz hat. Die Verfügbarkeit von Taurin dürfte großen Schwankungen unterliegen, glaubt die Wissenschafterin. Bei einer Phytoplanktonblüte zum Beispiel werden wahrscheinlich sehr hohe Konzentrationen auftreten. Ein Teil dieses Taurins könnte in der Tiefsee landen und dort das Bakterienwachstum ankurbeln. Der Transfer nach unten verläuft wohl vor allem über den sogenannten Meeresschnee.

Solche langsam herabrieselnden Flocken bilden sich selbstständig aus allerlei Schwebstoffen und enthalten überwiegend Organisches. Pelagisch lebendes Kleingetier, das Zooplankton, könnte ebenfalls ein wichtiger Taurinlieferant sein. Viele dieser Minikreaturen kommen nur nachts zum Fressen an die Oberfläche. Den Tag verbringen sie in Tiefen zwischen 400 und 700 Metern und setzen währenddessen massenhaft Ausscheidungen frei.

Messungen in der Tiefsee

Um den Stoffströmen auf die Spur zu kommen, führen Eva Sintes und ihre Kollegen in unterschiedlichen Meeresgebieten Messungen durch. Die küstennahe Probestelle liegt vor Rovinj, wo man auch bezüglich jahreszeitlicher Wechsel die Daten sammelt. Für die Hoch- und Tiefseewerte geht es hinaus auf den offenen Atlantik und den Nordpazifik. Bis in 5000 Meter Tiefe lässt das Team seine Instrumente hinab. Das Projekt erfordert einen erheblichen Aufwand, der Wissenschaftsfonds FWF leistet finanzielle Unterstützung.

Die Studie gilt allerdings nicht nur dem Taurin und seiner Produktion, sondern auch dessen Verwertung durch Mikroorganismen. Zu diesem Zweck setzen die Biologen den Meeresbakterien unter anderem mit 14C-Kohlenstoff markiertes Taurin vor. Der Clou dahinter: Wenn die Zellen die Moleküle für ihren Stoffwechsel verbrauchen, fällt 14CO2 in messbaren Konzentrationen an. Was in den Bakterien selbst verbleibt, kann ebenfalls ermittelt werden.

Die Summe, kombiniert mit der Zeit, ergibt die Aufnahmerate. Dank spezieller Versuchsbehälter lassen sich solche Experimente sogar direkt in der Tiefsee durchführen, unter natürlichen Bedingungen eben.

Interessantes dürfte auch nahe der Oberfläche vorgehen. Die Angehörigen der SAR11-Klade sind womöglich die am weitesten verbreiteten Taurinkonsumenten. Man identifiziert diese Bakterien hauptsächlich anhand ihres Erbguts, ihre Kultivierung im Labor ist schwierig. SAR11-DNA wurde bereits zahlreich in verschiedensten Gewässern rund um den Globus nachgewiesen (vgl.: Journal of Microbiology, Bd. 51, S. 147).

Rätselhafte Zyklen

Ein Vertreter der Gruppe, Candidatus Pelagibacter ubique, hat sich besonders an ein Leben unter nährstoffarmen Bedingungen angepasst – wie sie im landfernen Ozean häufig auftreten. Er ist eventuell für einen raschen Verbrauch des vom Phytoplankton produzierten Taurins verantwortlich. Über die notwendige biochemische Ausstattung verfügt Candidatus Pelagibacter ubique jedenfalls.

Eva Sintes' Forschungsarbeit wird hoffentlich neue Einblicke in die oft noch rätselhaften biochemischen Zyklen der Weltmeere ermöglichen. Taurin könnte darin eine Schlüsselposition einnehmen. "Vermutlich ist es ein wichtiger Nährstoff, vor allem in der Tiefsee", sagt Sintes. Den Bakterien mag es also tatsächlich Flügel verleihen. (Kurt de Swaaf, 2.4.2017)