Es gibt Momente in der Politik, in denen sich Geschichte, Tragik und Größe Europas in einer Weise verdichten, dass einem beinahe der Atem stockt. Ein solche Perspektive tat sich auf, als Donald Tusk Samstag bei den EU-Feierlichkeiten auf dem Kapitol in Rom ans Rednerpult trat. In einer kurzen Ansprache sollte er über Genesis und Gegenwart der Union referieren.

Tusk ist Pole. Und er ist als Ständiger Präsident des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs formell der höchstrangige Politiker der Union, protokollarisch noch vor Angela Merkel oder Francois Hollande. In frischer Erinnerung ist dazu auch noch, mit welcher Verbissenheit die nationalkonservative polnische Regierung vor drei Wochen versuchte, seine Wiederbestellung als Präsident zu verhindern.

Vom einem EU-Präsidenten wäre nun zu erwarten gewesen, dass er bei einem solchen Anlass im historischen Rathaussaal, von dem aus man auf das antike Forum Romanum – die Wiege Europas – blickt, mit einer europapolitischen Grundsatzrede beginnt. Aber genau das tat er nicht.

Tusk begann mit einer einfachen, sehr persönlichen Geschichte. Er erzählte, dass auch er knapp 60 Jahre alt ist und in der polnischen Hafenstadt Danzig geboren wurde, nur vier Wochen nach der Unterzeichnung der Römerverträge 1957. Er schilderte, wie Deutsche, Franzosen und Niederländer in seiner Heimatstadt über Jahrhunderte offenen Handel betrieben und Kultur prägten; wie die Stadt bei Weltkriegsende 1945 von Soldaten Hitlers und Stalins dem Erdboden gleichgemacht wurde; wie er sich ab 1980 an der Seite von Lech Walesa in der Solidarnosc-Gewerkschaft gegen die kommunistische Diktatur auflehnte; und wie er und seine Landsleute von Freiheit, Grundrechten, Demokratie und Wohlstand im Westen, in der damaligen EG, träumten; wie sein Land schließlich 2004 EU-Mitglied wurde und er später polnischer Premierminister war.

Viel mehr an Beweisstücken, was den Erfolg und letztlich sogar eine Art von Triumph des modernen, offenen Europa über Krieg und Barbarei ausmacht, braucht man nicht. Papst Franziskus erklärte den EU-Chefs tags davor, es ginge dabei vor allem darum, "die Enge des eigenen Denkens" zu überwinden, mit der die Populisten und EU-Skeptiker im Moment so erfolgreich sind.

Danzig! Das ist jene reiche vielfältige Stadt, in der in den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann, als Hitler die Stadt von einem Kriegsschiff aus beschießen ließ, um sie "zu befreien", wie es zynisch hieß. Schon damals, von der ersten Minute an, zielte er vor allem auch auf die Juden.

Es heißt oft, die Erinnerung an die Gräuel des 20. Jahrhunderts und deren Überwindung in der EU reichten nicht aus, um die Jugend von Sinn und Zweck der Gemeinschaft in moderner Zeit zu überzeugen. Nichts ist falscher als das. Ganz im Gegenteil. So dringend wie selten zuvor ist es notwendig, vor allem die junge Generation in Europa über die lange komplizierte Geschichte ihres Kontinents aufzuklären und das Friedensversprechen der sprichwörtlichen "Gründerväter" zu erneuern. Und so deutlich wie seit Jahrzehnten nicht, ist es auch unumgänglich, allen Generationen vor Augen zu führen, dass das Fehlen von Sorge für die sozial Schwächeren die Gesellschaft als Ganzes bedroht. Vor allem auch darauf hat der Papst dankenswerterweise hingewiesen: Vor allem anderen müsse in einer Union, die sich ernst nimmt, die Solidarität stehen, zwischen den Staaten und den Bürgern gleichermaßen. Egoismus, Gier, Verweigerung der Hilfe, das sind jene Eigenschaften, die unsere Zukunft am meisten bedrohen.

In der "Erklärung von Rom" wird vor allem auf letzteres sehr deutlich Bezug genommen. Es scheint so zu sein, dass die Staatenlenker erkennen, dass sie sich den eigenen Ast absägen, wenn sie sich nicht für eine neue sozialere Politik auf EU-Ebene engagieren; dass die Konjunktur der nationalen bis nationalistischen Hochämter in dem einen oder anderen Mitgliedstaat in die Sackgasse führen würde. So gesehen war der EU-Jubiläumsgipfel in Rom ein riesiger Erfolg. Es war dort durchaus spürbar, dass selbst vom politischen Alltag abgebrühte Regierungschefs sehr nachdenklich wurden, wenn es darum ging, ihre Fehler, ihre Versäumnisse, ihren Mangel an Verantwortung für das Ganze zu benennen.

In einem Punkt kann man jetzt schon sagen, dass dieses Treffen historische Bedeutung hatte. Zum ersten Mal seit 60 Jahren wollte ein EU-Mitgliedsland – Großbritannien – nicht an einem gemeinsamen Treffen teilnehmen. Noch nie in der jungen Geschichte der Union gab es einen Austritt, vom Sonderfall Grönland und Dänemark abgesehen. Die EWG, wie sie 1957 ins Leben gerufen wurde, war als ständige "Zuwachsgemeinschaft" gedacht. Die Staaten wollten rein, nicht raus. Damit ist es vorbei. Darüber muss jetzt – Stichwort Türkei – neu nachgedacht werden.

Ein zweiter Aspekt stach in Rom ebenfalls ins Auge: Zum ersten Mal gab es am Rande eines EU-Gipfels, aber auch in diversen europäischen Hauptstädten, größere Demonstrationen FÜR die EU.

Bisher gab es Großdemonstrationen stets gegen die Politik der Union, oder überhaupt gegen Globalisierung, gegen liberale Öffnung, für die die Gemeinschaft steht. Möglicherweise wird 2017 also doch ein Wendepunkt im europäischen Jammertal seit 2008, seit fast einem Jahrzehnt. Und es schlägt das Pendel wieder einmal um, von Negativstimmung auf ein positives Gefühl, wenn es um die Europäische Union geht. Auch wenn viele es (noch) nicht glauben wollen, Anzeichen dafür gibt es in der Wirtschaft wie in der Politik. Die rechtspopulistischen Zyniker und Populisten, die die EU zerstören wollen, haben in Rom jedenfalls keine Rolle gespielt, nicht die geringste. Wie sagte Papst Franziskus den EU-Regierungschefs? "Ohne eine echte Perspektive der Ideen wird man am Ende von der Angst beherrscht, dass der andere uns aus den festen Gewohnheiten herausreißt, uns die erworbenen Annehmlichkeiten nimmt, einen Lebensstil in Frage stellt, der allzu oft nur aus materiellem Wohlstand besteht." Wie wahr. In gewisser Weise muss man an das tolerante, soziale und humane gemeinsame Europa glauben. (Thomas Mayer, 25.3.2017)