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Kritik ist die Kunst der Unterscheidung und der Argumentation.

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In einer ansonsten recht vernünftigen und klug argumentierenden Kritik stand einmal zu lesen, dass man einen Erzählband eigentlich nicht rezensieren könne. Man müsse sich jede einzelne Erzählung vornehmen, über das ganze Buch aber lasse sich wenig sagen. Natürlich stimmt das! Jede Erzählung bildet eine in sich geschlossene Einheit, ist ein Individuum, das sich abgrenzt von den anderen, steht für sich und will für sich genommen werden. Und natürlich stimmt das nicht! Ein Erzählband als Ganzes sagt etwas aus über seinen Verfasser und die Wirklichkeit, in der er lebt. In einem neuen Erzählband von Lydia Mischkulnig macht die Autorin nicht einmal auf Bachmann, dann auf Aichinger, um dann auf Jelinek umzuschwenken, sie bleibt immer, so sehr sich die einzelnen Erzählungen voneinander auch unterscheiden mögen, ganz bei sich. Es gehört zur Aufgabe der Kritik, das Individuum Mischkulnig ausfindig zu machen, die eben ganz anders ist als Aichinger, Jelinek und Bachmann, wenn sie diese auch gelesen und für sich verarbeitet, vielleicht gar Elemente von deren Denken in ihr poetologisches Konzept integriert hat. Eine Erzählung allein ergibt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Wesen eines Autors, einer Autorin, ein ganzer Band aber verrät, wie jemand tickt. Und darauf kommt es an. Was macht einen Schreibenden zu dem, was er geworden ist?

Zur Eigenart der Kritik

Was er geworden ist! Zur Eigenart der Kritik kommt dazu, dass man die individuelle Geschichte, weniger die Lebens- als die Denkgeschichte eines Autors, einer Autorin im Auge behalten muss. Jedes Buch bildet eine Station auf dem langen Weg eines Werks. Jedes Buch ist das Dokument eines intellektuellen Unterwegsseins, das sich seit der ersten Veröffentlichung nachvollziehen lässt. Mit jedem Buch verändert sich einer, der schreibt, und bleibt doch ein Individuum, das seine Vorgeschichte dringend braucht.

Der Anfang einer literarischen Karriere unterscheidet sich erheblich vom Spätwerk. Zu viel ist passiert mit dem Verfasser und der Gesellschaft, als dass einer so weitermachen könnte, als wäre nichts geschehen. Lange konnte man bei Martin Walser Roman für Roman eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland herauslesen. Spät vollzog sich ein Wandel ins Spirituelle. Die letzten Dinge, Seelen- und Glaubenssachen, bedeuteten eine Herausforderung für ihn, der er sich auf Dauer nicht mehr entziehen wollte. Das veränderte nicht nur die Thematik, es griff auf seinen Stil über. Früher, sagte er einmal in einem Gespräch, habe er über einen Chauffeur geschrieben, der nicht schlafen kann, weil er an seinen Chef denkt im Bewusstsein, dass dieser sehr wohl schlafen kann, weil er nicht an seinen Chauffeur denkt. "So jemand kommt mir nicht mehr ins Buch", so kategorisch distanzierte sich Walser von seinem früheren Werk.

Nicht nur Walser hat sich geändert, die ganze Gesellschaft gleich dazu. Das macht ein Werk, das sich über Jahre und Jahrzehnte entwickelt, so spannend, dass es einen Autor, eine Autorin in seiner Entwicklung zeigt. So bleibt kein Buch etwas Abgeschlossenes, es ist immer ein Work in Progress, das Schreiben erfassen wir als ein Projekt mit offenem Ausgang. Es lässt sich außerdem herauslesen, wie Zeit und Gesellschaft mitschreiben an einem Buch, wie sie Einfluss nehmen auf Atmosphäre, Sinn und Thematik und sich auf Form und Sprache auswirken. Martin Walsers Anfänge erinnern stark an Franz Kafka, kein Wunder, hat er über diesen Autor eine Dissertation verfasst. Damit passte er ganz in die Zeit der Fünfzigerjahre, als Kafka überhaupt als Held der Intellektuellen gefeiert wurde, den man entdeckte, nachdem er unter den Nazis verboten worden war.

Böll, Grass, Lenz stellten ihre Literatur in den Dienst einer kritischen Aufarbeitung von Zeitgeschichte und der unmittelbaren Gegenwart, und schon war mit seinem nächsten Buch Walser einer von ihnen. Selbst die Liebe, die große Privatsache, wurde bei ihm als Teil gesellschaftlichen Verhaltens diagnostiziert. Auch davon distanzierte sich Walser später, als er den einsam Liebenden, den großen Suchenden in Sachen Liebe, seine ganze Aufmerksamkeit schenkte. Der Weg führt nach innen, was man bei Walser bis in den Gebrauch der Sprache nachvollziehen kann. Sie neigt dazu, sich zunehmend hermetisch einzukapseln, den Weg ins Innen zu suchen, dorthin, wo die kollektive Verbindlichkeit der Wörter nachlässt, weil uns für das Einzigartige, Unverwechselbare, ganz und gar Individuelle die Sprache fehlt. Literaturkritik, die sich mit einem Buch beschäftigt, ohne zu wissen, aus welcher Vorgeschichte es herkommt, bleibt halbherzig. Sie kann nicht so tun, als wäre ein Roman ein Singulär, hängen doch die intellektuelle Biografie eines Menschen und die Entwicklung seiner Gesellschaft daran.

Formaler Zugriff auf den Stoff

Kritik als Kind der heute wieder einmal in Verruf geratenen Aufklärung ist auf sehr viel Wissen angewiesen. Sie muss sich versagen, eine Geschichte, die in einem Buch erzählt wird, in einer Kurzversion nachzutragen. Überhaupt ist die Geschichte nur der Köder, den Leser zu erwischen, um ihm über das Erzählte eine Vorstellung darüber zu geben, wie sich ein Verfasser die Welt vorstellt.

Literatur ist Welterklärung, Weltverklärung, kann aber auch verhindern, sich ein allzu festes Bild davon zu machen, was Wirklichkeit ist. Eigentlich geht es ja immer um die Wirklichkeit, von der keiner sagen kann, was sie ist. Deshalb diese Buch für Buch neu vorgenommenen Versuche, eine Ahnung zu bekommen, wie Wirklichkeit aussehen könnte. Jede in der Literatur festgehaltene Wirklichkeit ist eine, die jederzeit infrage gestellt werden kann. Literarische Kritik bekommt heraus, von welcher Wirklichkeit die Rede ist. Die teilt sich nicht nur mit über einen Plot, sie kommt zum Ausdruck über Sprache und Form. Die Entscheidung, wie ein Buch geschrieben wird, ist keine rein ästhetische, darin steckt eine Haltung zur Welt. Deshalb sind Geschmacksentscheidungen in der Kritik fragwürdig, weil es nicht darum geht, ob ein Text einem Kritiker, einer Kritikerin gefällt oder nicht. Kritik beschäftigt sich damit, was der formale Zugriff auf einen Stoff leistet.

Kritik ist die Kunst der Unterscheidung und der Argumentation. Deshalb ist es unangebracht, vor lauter Freundlichkeit nur Nettigkeiten über einen literarischen Text zu verkünden. Nicht ein Verriss ist hart und ungerecht, nie einen Verriss zu schreiben ist es. Damit begünstigt man eine Gleichmacherei, die Wichtiges dem Bedeutungslosen gleichsetzt. Dann stehen Scharlatan, Dilettant, Entertainer, Routinier und Quasselkaspar neben Sprachkünstler, Neudenker und Waghalsigem und dürfen sich in ihrer Kultivierung des Belanglosen bestätigt fühlen. Kritik ist kein Freundschaftsdienst und rührt keine Werbetrommeln, sondern ist harte Arbeit am Bewusstsein. Es ist von Vorteil, in einem literarischen Text das Fremde, das ganz Andere zu sehen, das sich grundsätzlich unterscheidet von allem, was ich selbst denke. Als Kritiker suche ich nicht das, womit ich konform gehe, Literatur ist kein Unterfangen der Selbstbestätigung. Die Abweichung macht einen Text zu Literatur, ein individueller Zugriff, ein unerwarteter Gedanke, der Zweifel an dem, was uns allen einleuchtet. Selbstverständlich darf ich auch von der Kritik erwarten, dass sie Literatur zum Anlass nimmt, darüber eigenständige Denkbewegungen zu entfalten. Eine Kritik, in der nicht ein störrischer Leser enthalten ist, hat schon verloren.

Auch Literaturkritik ist wie der Gegenstand, den sie behandelt,ein Kind ihrer Verhältnisse. Sie stellt nicht Urteile von dauerhafter Gültigkeit her. Eine Rezension mit Haltung ist ein Dokument der Zeit, in der sie entstanden ist. Auch wenn sie auf lange Zeit mit ihren Einschätzungen danebenliegen mag, so anregend, dass ich mich ihr mit Gewinn widmen darf, sollte sie allemal sein. Ihre Rolle hat sie erfüllt auch dann, wenn der Leser mit geschärften Sinnen und womöglich mit geweckter Lust am Widersprechen aus der Lektüre hervorgeht.

Neben dem Tagesgeschäft, Neuerscheinungen zu sichten und eine Auswahl der Öffentlichkeit vorzustellen, gehört die unermüdliche Sichtung des riesigen Fundus bereits längst geschriebener Literatur. Die literarische Vergangenheit besteht nicht aus einem gesicherten Kanon, über den das letzte Wort längst gesprochen ist. Mit Literatur kommt keiner an ein Ende, weil jeder Leser seine eigene Deutung ins Spiel bringt. Kein Goethe, kein Tolstoi, keine Sappho, keine Bachmann sind abgeschlossene Größen, von Unantastbarkeit darf keine Rede sein.

Dagegen tauchen oft überraschend Namen aus dem Vergessenheitsloch ans Licht der Gegenwart, die lange keiner kritischen Sichtung für wert gehalten wurden. Kannte jemand den Namen des Österreichers Andreas Latzko, bevor der Prosaband Menschen im Krieg, fulminante Abrechnungen mit der Kriegsmentalität im Ersten Weltkrieg, nach fast hundert Jahren wiederaufgelegt wurde? Plötzlich sah man sich mit einem Autor konfrontiert, der aus seinem Geist der Verneinung der öffentlichen Meinung hellwache Literatur schlug. Literaturkritik trägt dazu bei, den Kanon zu sichten, auf Verdrängtes dringend hinzuweisen und Argumente zu liefern dafür, was sie für überschätzt hält, etwas zurückzustellen. Muss ja nicht auf Dauer sein. Literaturkritik ist ein Verunsicherungsfaktor auf dem Gelände der festgefügten Übereinkünfte.

Vorsicht ist geboten

Doch Vorsicht ist geboten. Es tummeln sich schreibende Gestalten durch die Medien (die Namen sind dem Verfasser bekannt), die mit Autoren und Büchern so locker und seicht verfahren, dass es auf deren Kunst gar nicht ankommt. Vermeintliche Kritiker sind aber leicht zu erkennen. Wenn einer eine Würdigung über Arno Schmidt verfasst, den Avantgardisten mit Ärmelschonern, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren, wie seine Ästhetik beschaffen ist, dann haben wir es mit dem Fall eines gravierenden Missverständnisses zu tun.

Vielleicht sollte solch ein Rezensent den Anfang über Pixi-Bücher wagen. Literatur ist nun einmal in Form gebrachte Sprache und sprachlich gewandete Form. Damit müssen wir leben. Alles andere ist kasperl. (Anton Thuswaldner, Album, 24.3.2017)