Gudula Walterskirchen
Die blinden Flecken der Geschichte
Österreich 1927–1938
Kremayr & Scheriau 2017
208 Seiten, 22,90 Euro

Kremayr & Scheriau

Wien – Es hat lange genug gedauert. Aber nach Jahrzehnten der Unversöhnlichkeit von Rot und Schwarz hat sich der Umgang mit der komplizierten österreichischen Geschichte zwischen 1918 und 1938 sowohl in der Historiografie wie auch der Politik ein wenig entspannt.

Statt der aufgeladenen Begriffe "Ständestaat" und "Austrofaschismus" verwendet man heute lieber den Terminus Dollfuß/Schuschnigg-Diktatur. Ein Rehabilitierungsgesetz für die Opfer dieses Regimes wurde beschlossen, und selbst das Dollfuß-Porträt im ÖVP-Parlamentsklub erhielt kürzlich einen Zusatztext. (Warum ein Politiker, der das Parlament auflöste und die Republik beendete, in einem Parlament geehrt werden muss, bleibt indes ein Paradoxon.)

Die Publizistin Gudula Walterskirchen, die unter anderem zwei nicht allzu kritische Biografien über Engelbert Dollfuß und Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg vorlegte, dürfte mit den Konzessionen vor allem der konservativen Seite nicht allzu glücklich gewesen sein und holt nun zu einem Gegenschlag aus.

Streit um Schlüsselereignisse

Unter dem etwas holprigen Titel "Die blinden Flecken der Geschichte" (besser wäre gewesen: der Geschichtsbetrachtung) erzählt sie einmal mehr die Schlüsselereignisse von 1927 bis 1938, also vom "Urteil von Schattendorf" und seinen Folgen bis zum "Anschluss". Dieses "Ergebnis fünfzehnjähriger Forschungsarbeit" verspricht zwar "neue oder bisher unbeachtet gebliebene Fakten". Im Wesentlichen ist das Buch aber eine Gegenüberstellung bisheriger Interpretationen, die letztlich auf einen ziemlich parteiischen Blick auf die Zwischenkriegszeit hinausläuft.

Zwar gelingt es der streitbaren Autorin unter Bezugnahme auf die Einschätzungen einiger Rechtswissenschafter und der verdienstvollen Arbeiten Kurt Bauers über das Jahr 1934, einige Mythen zu Schattendorf oder zum "Bürgerkrieg" als solche zu entzaubern. Ihr einziger genuin neuer Beitrag bleibt indes über weite Strecken Spekulation: Sie vermutet hinter dem Aufstand des Republikanischen Schutzbunds im Februar 1934 nationalsozialistische Drahtzieher und versteigt sich sogar zur Behauptung, dass Adolf Hitler dazu ebenso angestiftet habe wie zum nationalsozialistischen Juliputsch 1934, der scheiterte, aber Dollfuß das Leben kostete.

Der "Braune Peter" für die Roten

Das ist auch so etwas wie der rote Faden des Buchs: Die Sozialdemokraten, deren damalige Anführer gewiss einige Fehler machten, kriegen von Walterskirchen entweder den "Braunen Peter" gezeigt oder werden der gewollten Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" beschuldigt. Dollfuß und die Seinen hingegen bildeten in dieser letztlich doch wieder einseitigen Darstellung die Abwehrfront gegen die Nazis.

Dazu gehört auch die Behauptung, Dollfuß sei "Antisemitismus zuwider" gewesen. Als dessen Biografin sollte sie es eigentlich besser wissen: Dollfuß trat für die Einführung des Arierparagrafen beim Cartell-Verband ein und scheiterte damit ebenso wie mit der von ihm in der "Reichspost" publizierten Forderung eines Numerus clausus für jüdische Studierende. Zudem war er so wie Seyß-Inquart Mitglied der Deutschen Gemeinschaft, eines obskuren antisemitischen und antilinken Geheimbunds.

Fehlende schwarz-braune Beziehungen

Ausgespart bleiben bei Walterskirchen aber vor allem die sehr viel intensiveren NS-Kontakte unter anderem von Starhemberg und Dollfuß, die längst gut dokumentiert sind, oder die ideologischen Naheverhältnisse der Vordenker des "Ständestaats" wie Othmar Spann zu den Nazis und anderen faschistischen Regimen, wie sie der US-Historiker Janek Wasserman in seinem Buch "Black Vienna" rekonstruierte.

Zwar gibt es zur Zwischenkriegszeit nach wie vor erstaunliche Forschungslücken, wie hier demnächst am Beispiel des Deutschen Klubs dokumentiert werden wird. Walterskirchens Buch schließt keine dieser Lücken, sondern reißt stattdessen vor allem wieder alte Gräben auf. (tasch, 22.3.2017)