Im Blogbeitrag "Die verlorene Ehre des Islam" war die Rede von der Klage der Islamisten über den Verlust des Objektes "Ehre" in der spezifischen Gestalt von "Ezzat": Dem "Glanz, der die Macht umgibt". Beruht die Identität der "echten Schwarzen" im Sinne Debra Dickersens auf der Identifizierung mit dem verlorenen Objekt "Würde" – siehe den Blogbeitrag "'Obama ist nicht schwarz': Die Krux mit der Identitätspolitik" –, so gründet die Identität der Islamisten auf die Identifizierung mit dem Objekt "Ehre", im Sinne jener "Herrlichkeit der Macht".

Der Islamist, dem das Objekt "Ehre des Islam" in der Gegenwart verloren erscheint – verloren oder beschädigt oder bedroht –, identifiziert sich in Reaktion auf diesen Verlust mit dem frühen Islam. Jenem vermeintlich goldenen Zeitalter, in dem er die unbeschädigte "Herrlichkeit der Macht" des Islam noch in Kraft sieht.

Ehre und Würde

Zwischen dem Objekt "Ehre" und dem Objekt "Würde" existiert allerdings ein für unseren Zusammenhang entscheidender Unterschied. Zwar ist die Würde des Menschen – entgegen anderslautender Behauptungen – durchaus antastbar. "Würde" ist also kein vom gesellschaftlichen Außen abgekapselter Wert. Dennoch verortet unsere Alltagsintuition "Würde", nicht ganz zu unrecht, primär im "Innenraum" der Subjekte.

Ehre hingegen ist ein gesellschaftlich hergestellter, dem Subjekt von Außen zugeteilter und im gesellschaftlichen Umgang leicht wieder zu zerstörender Wert. Und dementsprechend verletzlich. Die Ehre ist daher, auch in modernen Gesellschaften, ein rechtlich geschütztes, weil zerbrechliches Gut (Ehrverletzungsdelikte). Dass es andererseits, um die Würde des Menschen zu verletzen, oder sie ihm gar zu entziehen, viel radikalerer Maßnahmen bedarf, scheint der erwähnten Alltagsintuition, welche die Würde ungleich fester im Innenraum des Subjekts verankert sieht als die Ehre, recht zu geben. Zumal, wenn uns Ehre in der spezifischen Gestalt von "Ezzat" begegnet. Als Glanz, der die Macht umgibt, kann diese Art Ehre ihren Ort natürlich nicht in subjektiver Innerlichkeit haben, setzt sie doch die Herrschaft über real existierende andere in der "handfesten" äußeren Realität voraus.

"Sieh, du kannst auch mich lieben"

"Wenn das Ich", schreibt Sigmund Freud, "die Züge des [verlorenen] Objektes annimmt [sich mit dem Objekt also identifiziert], drängt es sich sozusagen [sich] selbst [...] als Liebesobjekt auf, sucht [den] Verlust zu ersetzen, indem es [zu sich] sagt: 'Sieh, du kannst auch mich lieben, ich bin dem Objekt so ähnlich'. Die Umsetzung von Objektlibido in narzisstische Libido, die hier vor sich geht, bringt eine Desexualisierung mit sich, also eine Art Sublimierung".¹

Folgen wir dieser Überlegung Freuds kann Sublimierung, sprich: der Verzicht auf die unmittelbare Befriedigung von sexuellen oder auch aggressiven Triebzielen, auf Identifizierung – als Mechanismus der Verarbeitung von Verlusten – gründen. Anders gesagt: Auf der Entschärfung von Liebe oder auch von Hass (Objektlibido) durch Verinnerlichung und Verwandlung in Selbstachtung (narzisstische Libido).

Weil aber Ehre, im Unterschied zur Würde, sich nicht in Innerlichkeit aufzulösen vermag, zumal Ehre im Sinne jener "Herrlichkeit der Macht", gelingt es dem Islamisten nicht, den Verlust des Objektes "Ehre" durch die  Identifizierung mit dem frühen Islam zu verarbeiten – die aggressiven Energien, die der Machtverlust des Islam freizusetzen vermag, zu sublimieren.

Im Gegenteil: Die Identifizierung mit dem frühen Islam, auf der die Identität des Islamisten beruht, radikalisiert seine Wut. Denn verglichen mit der – vermeintlichen – Herrlichkeit des frühen Islam, muss ihm das gegenwärtige real existierende Elend islamisch geprägter Gesellschaften umso schändlicher scheinen. Und je schändlicher ihm "das Elend des Islam" erscheint, umso flammender sein Hass, umso rasender seine Wut. Identifizierung führt hier nicht nur nicht zur Sublimierung, und somit zur Zähmung aggressiver Triebziele. Sie gießt, im Gegenteil, Öl ins Feuer des Zorns.

Ankündigungsplakat für das Buch Mormon aus dem Jahr 1844.
Foto: AP/Leah Hogsten

Das Buch Mormon

Die Identifizierung mit dem Objekt "Ehre" scheint jedoch unter bestimmten Umständen die Sublimierung aggressiver Triebenergien nicht zu behindern. Am 7. Juni 1844 erschien die erste – und zugleich letzte – Nummer der Zeitschrift Nauvoo Expositor. Nauvoo, eine Ortschaft im US-Bundestaat Illinois, war damals überwiegend von Mormonen bewohnt. Der Nauvoo Expositor kritisierte Joseph Smith, den Propheten der Mormonen und seine Lehren, insbesondere die Polygamie. Der von Mormonen dominierte Stadtrat von Nauvoo bezeichnete in einer Sitzung, unter Vorsitz Smiths, die Zeitung als "öffentliches Ärgernis" und beschloss die Zerstörung ihrer Druckerpresse. Der Beschluss wurde am 10. Juni vom obersten Polizisten der Stadt in Begleitung von hunderten Bürgern vollstreckt.

In weiterer Folge wurden Joseph Smith und andere Mitglieder des Stadtrats vom Gericht des Landkreises Hancock wegen Landfriedensbruchs angeklagt. Smith widersetzte sich zunächst der Verhaftung und mobilisierte die 5000 Mann zählende Nauvoo Legion, deren Oberbefehlshaber er war, lenkte aber schließlich ein. Er wurde verhaftet und nach Carthage, Illinois, gebracht, wo er im Gefängnis, in Erwartung seines Verfahrens, vom Mob gelyncht wurde.

"Die werden cool reagieren"

2011 wurde am Broadway das Musical The Book of Mormon aufgeführt. Das von Trey Parker und Matt Stone, den Machern der Animationsserie South Park, geschrieben und komponiert wurde, und das von zwei jungen Mormonen handelt, die ihren Missionsdienst in einem Dorf in Uganda ableisten müssen, wo die zu missionierenden Menschen, geplagt von Aids, Armut und Warlords, kein Interesse für das Buch Mormon, das Heilige Buch der Mormonen, aufzubringen vermögen.

The Book of Mormon, das Publikum und Kritik gleichermaßen begeisterte, ist eine beißende, streckenweise derbe Satire auf das Mormonentum, gegen die sich die Mohammed-Karikaturen harmlos ausnehmen. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass der eine oder andere Mormone "die Ehre des Mormonentums" durch The Book of Mormon verletzt sehen könnte. Und bedenkt man, dass uns jene Art politischer und militärischer Herrschaft, mit der sich Islamisten identifizieren, auch in der Geschichte des Mormonentums begegnet, ist der Gedanke nicht fern, dass The Book of Mormon das Potential haben könnte, Hass und aggressive Energien freizusetzen – bis hin zu terroristischen Akten.

Szene aus dem Musical "The Book of Mormon".
Foto: joan marcus/dapd

Dass dem nicht so war, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die Identifizierung mit dem Objekt "Ehre", im Sinne jenes Glanzes der Herrschaft, im kollektiven Bewusstsein der Mormonen keine, oder eine weitaus geringere Rolle spielen dürfte, als im Bewusstsein von Subjekten, die mit dem Islam identifiziert sind. Schon deshalb nicht, weil die "Macht" des frühen Mormonentums ungleich geringer war als die imperiale Macht des frühen Islam. Während der von Joseph Smith gegründeten Siedlung Nauvoo bestenfalls der Status einer autonomen Gemeinde zukam (Smith musste sich ja der Jurisdiktion des Bezirksgerichts Hancock unterwerfen, was ihm schließlich das Leben kostete), erstreckte sich das Herrschaftsgebiet des Islam beim Tode Mohammeds auf die gesamte arabische Halbinsel. Gute eineinhalb Jahrhunderte später war den Arabern die Errichtung eines islamisch beherrschten Weltreichs zwischen Indien und Spanien gelungen.

"Die Leute", sagte Matt Stone, einer der Macher des Musicals, in einem Radio-Interview, "'fragten uns, 'Habt Ihr keine Angst vor der Reaktion der Mormonen?', Trey und ich meinten: 'Die werden cool reagieren'. Und die Leute: 'Werden sie nicht. Es wird Proteste geben', und wir: 'Nein. Die werden cool reagieren.'"²

In Reaktion auf das Musical The Book of Mormon schaltete die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage folgende an das Publikum gerichtete Anzeige in den Programmheften der Theaterhäuser: "Sie haben das Stück gesehen, lesen Sie jetzt – das Buch." (Sama Maani, 21.3.2017)

Ende der Serie

¹ Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Frankfurt 1992, S. 269

² 'Book Of Mormon' Creators On Their Broadway Smash (NPR)

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