Versunken in Wodins Roman: Ihre Eltern sind 1945 von Leipzig, wo sie Zwangsarbeiter waren, vor den russischen Besatzern nach Nürnberg geflohen.

Foto: Heribert Corn

Wodin, das Bild ihrer Mutter: "Es ist, als hätte ich jetzt zwei Mütter. Eine, an die ich mich erinnere, und eine, die ich im Internet gefunden habe.

Fotos: Susanne Schleyer, Pressearchiv Natascha Wodin

Ich wollte dieses Buch unter meinem russischen Mädchennamen Natascha Wdowin veröffentlichen", schreibt Natascha Wodin 1983 (als Anmerkung) in Die gläserne Stadt, ihrem literarischen Debüt. Und weiter: "Der Verlag bestand darauf, dass ich diesen Namen eindeutsche, leicht lesbar und aussprechbar für Deutsche mache. Ich verstehe das als Teil der Geschichte, die ich in diesem Buch niederschreibe."

Als Teil dieser Geschichte ließe sich, am Rande bemerkt, denn auch der Umstand begreifen, dass der Titel dieser Tage ausgerechnet in der Reihe "Moderne fränkische Klassiker" neu aufgelegt worden ist. Die Aufmerksamkeit der Stunde gilt aber Wodins jüngstem Buch: Sie kam aus Mariupol. Darin hat die 1945 im fränkischen Fürth als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter geborene Autorin die Spurensuche hinsichtlich ihrer Mutter dokumentiert, und obwohl Wodin sich heute von ihrem Debüt distanziert ("Vieles davon ist mir inzwischen peinlich"), macht sie in Sie kam aus Mariupol den Zusammenhang der beiden Bücher explizit: "Mein erstes Buch war so etwas wie der Versuch einer Autobiographie gewesen, aber damals hatte ich keine Ahnung gehabt von meiner Biographie, ich hatte mein Leben und seine Zusammenhänge nicht gekannt. Meine Mutter war immer eine innere Figur für mich geblieben, Teil einer vagen, im Ungefähren angesiedelten Privatvita, die ich mir jenseits politischer und historischer Zusammenhänge erfunden hatte, in einem Niemandsland, in dem ich ein herkunftsloses, wurzelloses Einzelwesen war."

Ich starrte auf den Eintrag

Sie habe sich, erzählt Natascha Wodin, von der "Schnapsidee", den Namen ihrer Mutter in eine russische Suchmaschine einzugeben, zunächst überhaupt nichts erwartet, und sie sei regelrecht erschrocken, als sie auf einen Eintrag aus dem Geburtenregister der ukrainischen Hafenstadt Mariupol stieß: "'Iwaschtschenko, Jewgenia Jakowlewna, Geburtsjahr 1920, Geburtsort Mariupol'. Ich starrte auf den Eintrag, er starrte zurück. So wenig ich über meine Mutter auch wusste, ich wusste, dass sie 1920 in Mariupol geboren war. Sollte es möglich sein, dass in einer kleinen Stadt wie dem damaligen Mariupol in einem Jahr zwei Mädchen mit demselben Vor- und Nachnamen zur Welt gekommen waren, deren Väter beide Jakow hießen?"

Mehr noch als der Zufall kam Natascha Wodin alsbald ein russischer Hobbygenealoge zu Hilfe, dessen unermüdlicher Eifer wesentlich dazu beitragen sollte, dass sie schlussendlich mehr über ihre Herkunftsfamilie in Erfahrung brachte, als ihr zuweilen lieb war – spätestens dann, als ihr ein Neffe zweiten Grades seinen Muttermord gestand: "Ich starrte auf die E-Mail vor mir und fragte mich, ob er mich zum Narren hielt. Zwar wusste ich, dass es Mörder auf der Welt gab, auch solche, die ihre Mütter umgebracht hatten, aber konnte es tatsächlich sein, dass ausgerechnet ich mit einem von ihnen verwandt war? Ich, die ich mein Leben lang mit überhaupt niemandem verwandt war? Ich verfluchte mich dafür, dass ich mit dieser Suche angefangen hatte. Was hatte ich mir in mein Leben geholt? Warum tat ich mir das an?"

STANDARD: Frau Wodin, warum taten Sie sich das an?

Wodin: Ich habe ja, als ich zu suchen anfing, nicht gewusst, was zum Vorschein kommen würde, was für eine Lawine auf mich zurollte. Aber mir war sehr schnell klar, dass ich auf einen ungeahnten Stoff für das Buch gestoßen war, das ich über meine Mutter schreiben wollte. Ursprünglich hatte ich nur eine kleine Erzählung geplant, ähnlich jener, die ich in dem kleinen Band Das Singen der Fische über meinen Vater veröffentlicht hatte. Ich wollte das Leben meiner Mutter anhand der mir bekannten historischen Fakten erfinden, weil ich ja so gut wie nichts über sie wusste. Und da fiel mir plötzlich dieser gigantische, ganz reale Stoff in den Schoß. Den konnte ich nicht ignorieren, so horribel er teilweise auch war.

STANDARD: Ihre Mutter entstammte – entgegen Ihren Annahmen – einem ukrainisch-baltischen Adelsgeschlecht und einer sehr wohlhabenden italienischen Kaufmannsfamilie ...

Wodin: Das ist nach wie vor irritierend für mich. Ich bin ja sechzig Jahre lang davon ausgegangen, dass sie aus dem ganz einfachen ukrainischen Volk kommt, also von diesen gütigen, gläubigen und bäuerlich geprägten Menschen.

STANDARD: Hat sie Sie denn bewusst im Unklaren über ihre Herkunft gelassen?

Wodin: Nein, das glaube ich nicht. Ich war ja noch ein Kind, aber ich erinnere mich, dass sie mir von ihrer italienischen Mutter und ihrem steinreichen italienischen Großvater erzählt hat. Später habe ich immer gedacht, dass ich mir das als Kind zusammengereimt habe, weil ich mich so dafür schämte, ein russisches Lagerkind zu sein. Ich habe meinen deutschen Mitschülern erzählt, ich sei ein Findelkind, meine Eltern hätten mich auf der Flucht im Straßengraben gefunden und mitgenommen, in Wahrheit käme ich aus dem russischen Adel, aus einer Familie à la Lew Tolstoj. Ich ahnte nicht, dass ich gar nicht so falsch log, das hat etwas Anekdotisches.

STANDARD: Ihre Eltern sind 1945 von Leipzig, wo sie während des Krieges als sogenannte Ostarbeiter Zwangsarbeit für den Flick-Konzern verrichtet hatten, vor den russischen Besatzern und der drohenden "Repatriierung" nach Nürnberg geflohen.

Wodin: Ja, sie gehörten zu den Millionen Zwangsarbeitern aus dem Osten, die in der deutschen Kriegsindustrie verschlissen wurden. Neben den Vernichtungslagern gab es damals auf deutschem Boden 30.000 Zwangsarbeiterlager. Das weiß fast niemand von den Deutschen, die ich kenne. Auch über das Schicksal der Displaced Persons ist bis heute wenig bekannt. Zu ihnen gehörten auch die ehemaligen Zwangsarbeiter, die nach dem Krieg in Deutschland geblieben waren. Meine Eltern konnten sich auf mir unbekannte Weise der Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion entziehen. So entgingen sie dem Schicksal der Rückkehrer, die in der Heimat der Gulag erwartete oder ein Dasein als geächtete Kollaborateure, die ihr Leben lang aus der Gesellschaft ausgeschlossen blieben.

STANDARD: Ihre Eltern fanden zunächst Unterschlupf in einem Lagerschuppen eines deutschen Eisenwarenfabrikanten, ehe sie im Valka-Lager, dem damals größten bayerischen Barackenlager für Displaced Persons, und schlussendlich in einer eigens errichteten Siedlung für nunmehr "heimatlose Ausländer" am Forchheimer Stadtrand untergebracht wurden, wo sich Ihre Mutter 1956, im Alter von 36 Jahren, das Leben nahm.

Wodin: Ja, sie ist an einem Tag im Oktober weggegangen, und als sie bis Mitternacht noch nicht zurück war, wusste ich, dass sie ins Wasser gegangen ist.

STANDARD: Hat sie es angekündigt?

Wodin: Ja, ich kannte sie gar nicht ohne diese ständige Ankündigung. Einen Tag vor ihrem Tod kam ich von der Schule nach Hause und erzählte ihr, dass wir am nächsten Tag einen Schulausflug machen. Sie schwieg zu dieser Zeit schon seit Wochen, und plötzlich sagte sie etwas. "Du wirst nicht mitgehen", sagte sie. Das löste in mir einen Sturm der Empörung aus, weil ich nie etwas durfte, was für alle anderen selbstverständlich war – es hieß immer: Wir sind keine Deutschen. Ich wusste nicht, dass es diesmal kein Verbot, sondern eine Prophezeiung war. Am nächsten Tag, dem Tag des Schulausflugs, fand man ihre Leiche am Ufer der Regnitz.

STANDARD: Wie hat die Arbeit am Buch Ihr Bild von Ihrer Mutter verändert?

Wodin: Es ist, als hätte ich jetzt zwei Mütter. Eine, an die ich mich erinnere, und eine, die ich im Internet gefunden habe. Ich erinnere mich vage an Berührungen meiner Mutter, an ihre Stimme, an ihr Haar. Die Frau aus dem Internet ist sinnlich nicht fassbar, eine Person, von der ich nun weiß, aber sie ist mir recht fremd. Das Gedächtnis hält die Mutter fest, die ich gekannt habe.

STANDARD: In einer der eindrücklichsten Erinnerungen an Ihre Mutter heißt es im Buch: "Immer sang sie, wenn sie nicht weinte oder entrückt war in ihr unheimliches Schweigen. (...) Und wenn wir zu Hause sangen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich, wenn unsere Stimmen zusammenflossen, dann gehörten wir zusammen, bildeten eine Familie, ein Wir, das es sonst nie gab."

Wodin: Ja, so war es. Das Singen einte uns, es war etwas Magisches. Es brachte mir sogar in der Schule Anerkennung ein, weil ich eine so schöne Singstimme hatte. Und ich wünschte mir damals ja nichts sehnlicher, als von den Deutschen anerkannt zu werden, selbst eine Deutsche zu sein.

STANDARD: Der Preis für diese Anerkennung erscheint hoch, wenn man in der "gläsernen Stadt" liest: "Ich verachtete aus tiefster Seele alles, was mir selbst bis vor kurzem noch angehaftet hatte: Ausländer, Asoziale, Kommunisten. Meine Stimme war die lauteste, wenn es um deren Verteufelung ging. Als meine Ehe (...) nach acht Jahren mörderischen Zweikampfs geschieden wurde, war ich (...) grau geworden vor Anstrengung. Grau vor Haß, Überanpassung und der Sucht nach Aufstieg." Was kam danach?

Wodin: Danach kam der Zusammenbruch. Nach der Scheidung habe ich mehr als einmal gedacht: Wärst du besser mal geblieben! Denn was nun kam, war zwar das, was ich immer gewollt hatte, die Freiheit, aber ich hatte keine Ahnung, was das war, ich konnte mit Freiheit nicht umgehen. Ich geriet damals unter die linken Studenten, zu meinem großen Glück und Unglück.

STANDARD: Wie zeigte sich dieses Unglück?

Wodin: Meine Kampfenergie war ja immer noch da, die ließ sich nicht abstellen, aber plötzlich hatte sie kein Gegenüber mehr im Außen, weil ich jetzt unter Menschen war, die mich akzeptierten, es sogar interessant fanden, dass ich Russin war. So richtete sich die Kampfenergie gegen mich selbst, plötzlich war der Feind in mir selbst. Und der ist ungleich gefährlicher als der Feind im Außen.

STANDARD: Was hieß das konkret?

Wodin: Ich habe nicht mehr verstanden, wie ich sprechen, agieren und reagieren muss; am Ende habe ich verlernt, wie man einen Fuß vor den anderen setzt, und das meine ich nicht metaphorisch. Ich hatte begonnen, mich selbst zu zerstören.

STANDARD: Sie sind gelernte Dolmetscherin – konnten Sie unter diesen Umständen Ihren Beruf noch ausüben?

Wodin: Nein, das konnte ich dann nicht mehr. Aber das war vielleicht ganz gut, denn meistens machte ich damals technische Übersetzungen, deren Inhalt ich überhaupt nicht verstand. Ich möchte nicht wissen, wie viele Fabriken in der Sowjetunion wegen meiner Übersetzungsfehler in die Luft geflogen sind. (Lacht). Irgendwann habe ich damit begonnen, über das zu schreiben, was mir widerfuhr und was ich überhaupt nicht einordnen konnte.

STANDARD: Der "Tagesspiegel" hat Sie unlängst als "Sängerin der dunklen Töne" bezeichnet. Fangen Sie mit derlei Apostrophierungen etwas an?

Wodin: Das kommt darauf an, was damit gemeint ist. Wenn es bedeutet, dass mein "Gesang" die menschlichen Abgründe – und dort ist es ja naturgemäß immer dunkel – ausleuchtet, bin ich das gern. In der Literatur geht es ja letztlich immer darum, die menschlichen Abgründe auszuleuchten.

STANDARD: Balzac spricht von einem "Licht, das tötet" ...

Wodin: Fürwahr, das gibt es. In Kleists Marionettentheater ist das vernichtende Licht das erste Bewusstsein, das in die Dunkelheit einbricht. Es ist der Moment der Vertreibung aus dem Paradies.

STANDARD: Über Ihre erste Begegnung mit den Gedichten Wolfgang Hilbigs schreiben Sie in "Nachtgeschwister": "Schon von den ersten Zeilen (...) ging eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit, eine Wucht, dass ich zurückprallte und mich buchstäblich an der Tischkante festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu fallen. Ich wusste sofort, dass ich auf etwas Großes gestoßen war, auf etwas Einmaliges, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat."

Wodin: Das war für mich ein rettender Moment, als ich dieses Buch aufgeschlagen habe, das war eine riesige Offenbarung, das war die Stimme, die ich immer gesucht hatte. Ich hatte meinen männlichen Zwilling gefunden. Aber mein fataler Fehler bestand darin, dass ich Person und Werk gleichsetzte. Ich hatte meinen Zwilling auf dem Papier gefunden, aber im Leben war er nicht aufzufinden, in all den Jahren bin ich ihm nie begegnet.

STANDARD: Nie?

Wodin: Nie, nicht einen Tag. Zwischen uns war immer Krieg.

STANDARD: Ihr Manuskript "Nachtgeschwister", in dem Sie nicht zuletzt über Ihre Liebes- und Leidensgeschichte mit Wolfgang Hilbig schreiben, wollte lange Zeit kein Verlag veröffentlichen. Wissen Sie, warum das so war?

Wodin: Wahrscheinlich fürchtete man so etwas wie den Vorwurf der Majestätsbeleidigung. Aber nachdem ich jahrelang alle deutschen Verlage abgeklappert hatte und das Buch schließlich doch kam, wurde es von der Kritik fast durchwegs positiv aufgenommen.

STANDARD: Wurde Ihnen von keiner Seite Indiskretion vorgeworfen?

Wodin: Wolfgang Hilbig hat sich selbst in fast allen seinen Büchern als Trinker und Psychopath beschrieben. Er hat sich selbst als menschliche Minusvariante bezeichnet, es hat ihn überhaupt nicht interessiert, was für ein Mensch er war. Er wollte ein großer Schriftsteller sein, es ging ihm ausschließlich darum. Als solchen habe ich ihn beschrieben, ich glaube, das hätte ihn gefreut. Und ich glaube, ich habe ihn an keiner Stelle diskreditiert. Oder sehen Sie das anders?

STANDARD: Ich bin weder Kläger noch Richter.

Wodin: Jedenfalls hoffe ich sehr, dass er trotz aller Entblößungen aufgehoben ist in meinem tiefen Verständnis für seine Tragik und meiner großen Bewunderung für seine Literatur.

STANDARD: Können zwei Unbehauste einander nur in der Sprache beschützen?

Wodin: Er jedenfalls hat mich als Schriftstellerin immer beschützt und bestärkt, das ist das Einzige, was er mir geben konnte, den Glauben an mich selbst, der mir immer gefehlt hat. Und das war ziemlich viel.

STANDARD: Empfinden Sie die Nominierung von "Sie kam aus Mariupol" für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse als Genugtuung?

Wodin: Wenn, dann für meine Mutter und all die Namenlosen, die ihr Schicksal geteilt haben.

STANDARD: Im Buch schreiben Sie: "Jetzt stand ich vor der Aufgabe, das Versäumte nachzuholen, in einem vielleicht letzten Buch zu sagen, was ich in meinem ersten hätte sagen müssen." Ist Ihnen das gelungen?

Wodin: Zu meinem eigenen Erstaunen: ja. Von mir aus könnte jetzt Schluss sein. (Josef Bichler, Album, 18.3.2017)