"A little life" heißt der Pageturner und 960-Seiten-Roman im Original: der Wiener Autor und Buchrezensent Manfred Rebhandl beim Lesen des US-amerikanischen Bestsellers "Ein wenig Leben".

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Hanya Yanagihara, "Ein wenig Leben", € 28,80 / 960 Seiten. Übersetzt von Stephan Kleiner, Verlag Hanser Berlin, 2017.

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Vor New York war das Jurastudium gewesen", fasst die 44-jährige US-amerikanische Autorin Hanya Yanagihara einmal die Stationen des Leidens zusammen, den Kreuzweg, den ihr Held beschreiten muss. "Und davor das College, und davor Philadelphia und die lange, langsame Reise durch das Land, und davor Montana und das Heim, und vor Montana war der Südwesten gewesen, waren die Motelzimmer gewesen und die einsamen Straßen und die Stunden im Auto. Und davor war South Dakota gewesen und das Kloster. Und davor?"

Er, das ist Jude, und in seinem Namen ist schon alles zusammengefasst und vorweggenommen, was ihm widerfahren ist oder noch widerfahren wird, denn Jude ist "der Schutzpatron der Hoffnungslosen". Als Erwachsener wird er später davon besessen sein, den genauen Moment zu bestimmen, in dem sich alles für ihn zum Schlechten gewendet hatte, "aber eigentlich wusste er es. Es war geschehen, als er an jenem Nachmittag das Gewächshaus betrat."

Dort war Pater Luke, der in dem Kloster lebte, wo man das Findelkind – als Neugeborenes neben einer Mülltonne ausgesetzt – aufgenommen hatte. Die Brüder prügelten Jude "mit allem, was sie finden konnten", vergewaltigten und demütigten ihn so lange, bis er wusste, dass sich in Zukunft jeder, der sich mit ihm einließ, "ein Stück Schrott einhandeln würde."

Was sich in den acht Jahren vor seiner Begegnung mit Pater Luke ereignete und in den sieben Jahren danach, bis Jude 15 sein wird, dieses Erlebte nennt er selbst die "Kreatur", die in ihm lebendig bleibt und ihm höllische Schmerzanfälle bereitet, von der er aber niemandem zu erzählen vermag. Keiner soll wissen, dass er gefangen ist "in einem Körper, den er hasst, zusammen mit einer Vergangenheit, die er hasst, und dass er beides niemals wird ändern können." Dieser Körper ist buchstäblich gebrochen, sein Rückgrat ist verletzt, die Haut ist übersät von Narben, die er sich mit Rasierklingen selbst beibringt, und mit offenen Wunden, die oft nicht mehr heilen wollen. Sein Fleisch – es verfault buchstäblich. Jude ekelt sich so sehr vor sich selbst, dass er seinen Körper "seit mindestens zehn Jahren nicht mehr nackt gesehen hat."

Während der Collegejahre aber, nach dem Entkommen aus der Hölle, führt Jude mit seinen drei Freunden zunächst ein nach außen hin mustergültiges Ostküstenleben in New York, wir lesen am Anfang ein Buch über Freundschaft. Diese Freunde leben "alle wie Kinder", verantwortungslos, sorgenlos und beizeiten auch ziellos zwischen Upper und Lower East Side, und in diesen Jahren gilt es "Zeuge der ausgedehnten Strecken der Langweile und gelegentlichen Triumphe im Leben eines anderen zu werden." In diesen Jahren ist Jude sogar manchmal glücklich, aber dann muss er "sich in Erinnerung rufen, dass ich es nicht sein sollte." Seine Freunde Malcom, JB und Willem werden Architekt, Maler, Schauspieler. Und Jude selbst wird brillanter Anwalt, der viel Geld verdient mit einer "Brutalität und Kälte", die er allerdings nur im Gerichtssaal zeigt, außerhalb bleibt er zutiefst verletzlich.

"Jude, rede mit mir!"

Seinen Freunden, die sich gegenseitig in großer Zärtlichkeit zugetan sind, fällt natürlich auf, dass mit Jude etwas nicht stimmt. Aber nicht einmal der befreundete Arzt Andy, der seinen fortschreitenden körperlichen Verfall dokumentiert, vermag es, aus Jude etwas herauszuholen, geschweige denn, ihn zu einer Therapie zu überreden. "Jude, rede mit mir!" ist folglich der Satz, den wir am häufigsten lesen. Jude aber kann nicht reden, denn seine Worte wiegen "schwer wie Steine, die unter der Zunge liegen."

Scheinbar leicht flossen hingegen der Autorin die Worte aufs Papier, in 18 Monaten soll sie das Buch "wie im Fieber" geschrieben haben, eine Frau schrieb die Geschichte eines vergewaltigten Mannes. Mit einer Fülle an Wissen und Informationen und in überaus detailreicher Sprache zieht sie uns auf über 900 Seiten in diese hoffnungslose Geschichte hinein, blättert mit ungezählten wunderbaren Sätzen und Passagen mühelos einen Zeitraum von über drei Jahrzehnten vor uns auf, abwechselnd in Rückblenden und Vorausschauen, mit Perspektivwechseln und jeweils eigenen Erzählstimmen. Sie scheut dabei auch nicht die Elemente des Spannungsromans, kreist um ihren Helden, löst Schale um Schale, die sich um seinen "Dämon" gelegt hat, von ihm ab, bis der Schmerzensmann einmal buchstäblich nackt vor uns steht:

Obwohl der geschundene Jude im Erwachsenenleben vor allem den Vorteil sieht, keinen Sex mehr haben zu müssen (er war fünfzehn, als er sich das letzte Mal mit "Seifenlauge" den Mund auswusch), lässt er sich als mittlerweile erfolgreicher Anwalt mit Caleb ein, der ihn eines Tages im Hauseingang küsst, in den folgenden Monaten aber wieder vergewaltigt, wieder verprügelt und wieder demütigt. Dies seitenlang beschrieben in einer schonungslosen Brutalität, die Judes Überzeugung abermals verfestigt, wonach er ein "Stück Schrott" wäre. Dieser Caleb, selbst ein Riese, erträgt die körperliche Hinfälligkeit seines Opfers nicht, sie scheint erst recht den Hass auf ihn an den Tag zu befördern, mit dem er über ihn kommt. Nackt stößt er ihn bei Regen hinaus auf die Straße, wo er ihn zwingt zu sagen: "Ich bin abstoßend. Ich bin widerlich. Ich bin wertlos." Da sind wir in der Mitte des Buches angelangt, aber nur Monate später wird Jude noch etwas viel Schlimmeres widerfahren.

In Amerika wurde Ein wenig Leben hymnisch gefeiert. In Österreich und Deutschland, wo der Hanser-Verlag eine sehr hohe Lizenzgebühr dafür zahlen musste, fielen die Reaktionen reservierter aus, es gab sogar Häme. Zu viel gewollt hätte die Autorin, und zu viel eigenes Wissen hätte sie darin verpackt und verarbeitet. Tatsächlich kann man sich vorstellen, dass 200 Seiten weniger an Detailreichtum der Größe des Erzählten vielleicht sogar eher noch genützt hätten. Und man kann sich auch fragen, warum jemand ausgerechnet an das "Gleichheitsaxiom" denken muss, während er eine Treppe hinunterfällt. Oder warum man den Namen jeder Topfpflanze auch noch auf Latein lesen muss. Aber auch mit diesen Makeln ist die Lektüre von Ein wenig Leben schlicht überwältigend, denn: "Es ist eine gute Geschichte". Das sagt Jude am Ende, als er endlich anfangen will zu reden, und genau da hört der Roman dann auf. (Manfred Rebhandl, Album, 18.3.2017)