Kim Stanley Robinson: "Aurora"
Broschiert, 555 Seiten, € 15,50, Heyne 2016 (Original: "Aurora", 2015)
Meistens kommt's dann doch anders, als man befürchtet. Nach dem maßlos überschätzten Langweiler "2312" hatte ich an den nächsten SF-Roman von Kim Stanley Robinson (das Steinzeit-Zwischenspiel "Schamane" lassen wir hier mal außen vor) keine besonderen Erwartungen. Und fand "Aurora" dann unerwartet spannend – sogar mit ansteigender Kurve. Was zu einem gewissen Grad dem simplen Umstand geschuldet ist, dass die Reise zwischen Sternsystemen und der Versuch einer Kolonisierung per se einen dynamischeren Plot abgeben als ... ja, was immer es gewesen sein mag, das "2312" zusammenhalten sollte. Aber nicht nur deshalb.
Man beachte: Auch hier ist zwar wieder das drin, was "2312" streckenweise so quälend machte: lexikalische Auszüge, wörterbuchartige Begriffsaufzählungen, wissenschaftliche Trivia et cetera. Der entscheidende Unterschied ist aber weder, dass solche Passagen diesmal etwas weniger Raum einnehmen, noch dass sie in den Fließtext eingearbeitet sind, anstatt die Handlung als ständige Exkurse zu zerhacken. Er liegt darin, dass sie diesmal eine Begründung haben. Und schon wirkt das Ganze nicht mehr so prätentiös.
Was passiert
Kommen wir zunächst zur Handlung: 159 Jahre sind vergangen, seit die Erde 2545 ein Generationenschiff auf die Reise nach Tau Ceti geschickt hat: eindeutig eines der beliebtesten Sternsysteme in der Science Fiction. Es gibt sogar einen eigenen (langen und immer noch nicht vollständigen) Wikipedia-Eintrag "Tau Ceti in Fiction". 2.000 Menschen reisen an Bord dieses Riesentrumms mit, einem Doppelring, der 12 jeweils mehrere Kilometer lange Habitate umfasst, die die Klimazonen der Erde samt Flora und Fauna repräsentieren sollen.
Im ersten Teil des Romans lernen wir dieses Schiff – alter Kniff – aus der Warte von jemand kennen, der selbst noch nicht so ganz den Durchblick hat. Freya ist nämlich erst 14, zudem hat sie womöglich eine gewisse Lernschwäche. Was allerdings auch nur bedeuten könnte, dass sie so "zurückgeblieben" wie wir Menschen des 21. Jahrhunderts ist. Und überhaupt kann man die strengen Standards ihrer Mutter Devi nicht wirklich verallgemeinern. Die ist inoffizielle Chefingenieurin und Problemfeuerwehr und steht ständig unter Strom. Insbesondere Stoffwechselrisse machen ihr Sorgen, also jedes winzige Ungleichgewicht in der schiffsinternen Ökologie.
Von nun an ging's bergab
Dass sich solche Stoffwechselrisse im Lauf der Zeit tatsächlich zu gewaltigen Problemen hochschaukeln können, werden wir später im Roman noch sehen. "Aurora" wirkt in vielem wie ein Gegenentwurf zu den optimistischen Machbarkeitsvisionen von "2312" oder Robinsons bis heute populärstem Werk, der Mars-Trilogie. Und zu den vielen Illusionen, die er hier anscheinend wie Seifenblasen platzen lassen will, gehört auch die Vorstellung, dass das Reisen in einem Raumschiff ein hygienischer Vorgang wäre ...
Bei der Ankunft in Tau Ceti nimmt man Aurora ins Visier, den äußerst erdähnlichen Mond eines größeren Planeten. Dessen Erkundung liest sich auf naturkundliche Weise faszinierend, und einmal mehr kann Robinson hier sein Leib-und-Magenthema – die Ökologie – ausbreiten. Aurora scheint nur aus Wind, Eis und Gestein zu bestehen. Dazu kommt allerdings eine Komponente, mit der vorher niemand gerechnet hatte, und die nun zu einem massiven Problem wird. Damit setzt sich eine Ereigniskette in Gang, auf deren weitere Glieder ich hier nicht mehr eingehen werde, um nicht zu spoilern. Denn was die reine Handlung anbelangt, könnte man "Aurora" in einem Satz zusammenfassen. Wichtiger ist hier ohnehin das Wie.
Unsere Stimme
Im zweiten der insgesamt sieben Romanteile wird ein neuer Erzähler eingeführt, und der beginnt wirklich bei null. Devi beauftragt nämlich den Schiffscomputer damit, die Geschichte der Langzeitmission in eine Erzählung zu kleiden. Womit der zunächst seine liebe Not hat: Ein unlösbares Problem: Sätze linear, Wirklichkeit synchron. Allerdings beide zeitlich. Immer nur eine Sache auf einmal, eins nach dem anderen. Wenn möglich einen Priorisierungs-Algorithmus entwickeln. Immer wieder wird sich der Computer in Nebensächlichkeiten verzetteln und Devi ihn ermahnen: "Schiff! Komm auf den Punkt." – Was eine Metapher ist, und: Oweh! Metaphern durchblickt er ja erst recht nicht.
Wenn man böse sein will, könnte man auch sagen, dass Robinson ganz einfach aus der Not eine Tugend gemacht hat und die Schuld für seine ausschweifende Art des Erzählens nun kurzerhand jemand anderem in die Schuhe schiebt. Dass er selber immer wieder in langsames Fahrwasser gerät, zeigt hier unter anderem der unnötig lang geratene siebte Teil, der den positiven Gesamteindruck aber nicht mehr trüben wird.
Fast schon menschlich
Mit einem so eigentümlichen Erzähler ist alles ein bisschen anders. Werden die Emotionen der nominellen Hauptfiguren beschrieben, klingt dies immer ein wenig off. Es gibt ja keine übliche Introspektion. Stattdessen registriert das allsehende und -hörende Schiff objektive Daten wie Stimmenlautstärke, biometrische Messwerte und dergleichen – und interpretiert diese dann mit vulgärpsychologischem Fachgesimpel, das es sich aus seinen Datenbanken zusammenklauben muss. Was sich zumeist vergnüglich unbeholfen liest.
Typisch für seine Sicht der Welt ist auch Präzision an unüblichen Stellen: Als im Zuge eines gewalttätigen Konflikts Freya und ihre Verbündeten gefangengenommen werden, heißt es nicht einfach, dass sie durch Zertrümmern der Tür ausbrechen, nein: Nach zweiundvierzig Schlägen brach der Knauf ab; nach weiteren zweiundsechzig, die größtenteils Freya ausführte, brach das Schloss aus dem Türrahmen, und die Tür schwang auf.
Aber der Schiffscomputer, der sich im Lauf der Zeit allmählich einer echten Künstlichen Intelligenz annähert (und darauf auch ein bisschen stolz ist), wird immer besser darin, das für die Erzählung Wesentliche herauszufiltern. Und nachdem er erst einmal begriffen hat, was eine Metapher ist (zum Beispiel das Schiff als Organismus zu betrachten ...), da reitet er sie auch ausgiebig zu Tode. Das verzeiht man ihm aber, genauso wie die zwischendurch immer wieder auftauchenden neunmalklugen Anmerkungen und zeitraubenden Erklärungen ... es ist eine Art Sheldon-Cooper-Effekt.
Kann man gut lesen
Ich finde hier vieles wieder, das mich an "2312" gestört hat und mir in "Aurora" keine Probleme bereitet: Erstaunlich, was ein kleines Drehen an der Ironieschraube bewirken kann. Ebenso erstaunlich ist es, dass man ein Werk als unterhaltsam verbuchen kann, das ungefähr so ernüchternd ist wie Tom Godwins "The Cold Equations". Die Erzählung ist langwierig, aber nicht langweilig, und das gilt sogar für einen der seltsameren Höhepunkte des Romans: das vermutlich längste Bremsmanöver in der gesamten Geschichte der Science Fiction.