Ankara/Athen – Neu bewerten, aussetzen, gleich aufgeben: Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu arbeitet weiter an der Drohkulisse, die Ankara gegenüber den Europäern aufgebaut hat, und lässt das Gespenst einer neuen Flüchtlingsbewegung aufkommen. "Wir haben das in der Hand", erklärte Çavuşoğlu kurz vor dem ersten Jahrestag des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei am Samstag: "Wir sagen: 'Von heute an halten wir uns nicht mehr daran', und das Flüchtlingsabkommen ist zu Ende."

Ein anderes Abkommen zur Rücknahme von illegalen Migranten, das Ankara 2013 mit der EU geschlossen hatte und das seit Juni 2016 in Kraft ist, habe die Regierung bereits "vollständig aufgegeben", sagte der türkische Außenminister in dem Interview mit dem regierungstreuen Nachrichtensender TV24 am Mittwochabend.

Anlass dafür ist der Streit um die Aufhebung des Visazwangs für Türken, die Teil dieses Rücknahmeabkommens ist. Brüssel gewährt die Visafreiheit bisher nicht, weil Ankara noch nicht alle Auflagen dafür erfüllt hat. Für das Publikum in der Türkei wie in Europa sind das verwirrende Details. Übrig bleibt die Drohung der türkischen Führung, die Tore für die Flüchtlinge wieder zu öffnen.

NGOs und Ankara mal einer Meinung

Einmal wenigstens aber findet Ankara volle Unterstützung bei Menschenrechtsgruppen und Hilfsorganisationen: Sie wollen das schnelle Ende des EU-Türkei-Pakts, der vergangenes Jahr geschlossen wurde, um die Flüchtlingsbewegung nach Europa zu stoppen. Zynisch, illegal und unmenschlich sei das Abkommen, so lautete die Bilanz, die mehr als ein Dutzend NGOs am Donnerstag in Athen zogen.

Mehr als 14.000 Flüchtlinge sind zum Teil seit einem Jahr auf fünf griechischen Inseln vor der türkischen Küste interniert. Die Bedingungen in den Lagern gelten auch nach Ansicht von Mitarbeitern des UN-Flüchtlingshochkommissariats als "Substandard".

In einer der schärfsten Verurteilungen des Abkommens bei der Pressekonferenz in Athen sprach der Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (FIDH), Dimitris Christopoulos, von einer "Kündigung der Genfer Flüchtlingskonvention". Ein Mensch verliere nun alle seine Rechte, sobald er aus seinem Land flüchte, erklärte Christopoulos. Die EU habe aus Griechenlands unzulänglichem Krisenmanagement ein Werkzeug machen wollen, sagte Nikos Kanakis, der Chef von Ärzte der Welt in Athen. "Kommt nicht hierher", sei die Botschaft an die Flüchtlinge. (mab, 16.3.2017)