Der Vorarlberger Dichter und der deutsch-chilenische Regisseur bei der Erörterung archaischer Standpunkte: Die "Orestie" hat in der Regie von Antú Romero Nunes (rechts) am Samstag Burgpremiere. Michael Köhlmeier erzählt eben dort am 10. April mythologische Denkwürdigkeiten.

Foto: Andy Urban

STANDARD: Was werden Sie, Herr Köhlmeier, zum aktuellen Antikenschwerpunkt des Burgtheaters beitragen?

Köhlmeier: Ich stelle mich hin und erzähle zwei Stunden lang. Die Geschichte rund um Orest ist eine Folge des Trojanischen Krieges. Homers Werke, die Ilias und die Odyssee, erzählen von diesem Krieg und von der Zeit danach. Die Vorgeschichte dieses ersten Welten-Krieges reicht zurück bis zum Uranfang, bis zu Uranos und Gaia. Der Krieg ist also eine Folge der Entstehung der Welt. Für Homers zeitgenössische Hörer waren diese Geschichten bekannt. Auch für die Zeitgenossen von Aischylos.

STANDARD: Wir besitzen dieses Vorwissen nicht?

Köhlmeier: Wenn jemand heute voraussetzungslos Homer oder Aischylos liest, steht er mit offenem Mund da.

Nunes: Tatsächlich wäre es schön, wenn Michael vor jeder Aufführung erzählen könnte. Das Problem ist fast nicht lösbar: Wenn Klytaimnestra die Bühne betritt, ist allen Griechen schlagartig klar, sie wird jetzt gleich ihren Mann umbringen. Es geht in der Orestie also nicht um die Lösung der Frage: Was passiert als Nächstes?

STANDARD: Sondern: Wie wird der Autor mit dem Stoff umgehen?

Nunes: Man packt langsam ein Paket aus und schaut hinein. Wie begründet Klytaimnestra ihre Tat? Man empfindet eine diebische Lust an ihrer Lüge. Spielt man das als Lüge, wenn sie ihre Freude beschwört, Agamemnon nach zehn Jahren wiederzusehen? Oder lässt man zu, dass sie sich selbst als Lügnerin entlarvt?

STANDARD: Der Chor in der "Orestie" wird von Anfang an von schlimmen Vorahnungen geplagt. Dann tritt ein Bote aus Troja auf ...

Nunes: Es handelt sich um antike Fake News, alternative Wahrheiten. Der Chor verdrängt auch permanent. Wenn Kassandra bekennt, dass ein Fluch auf ihr lastet, weil ihren Voraussagen niemand Glauben schenkt – dann folgt eine Stelle, wo der Chor ihr dennoch glaubt. Was wird hier also verdrängt, und von wem?

STANDARD: Was bedeutet es, wenn alles, was geschieht, von vornherein festgelegt erscheint, politisch wie theatralisch?

Nunes: Wir glauben selbstbestimmt zu handeln, weil wir unserer mickrigen Identität so großen Wert beimessen. Wir reden hier aber von Heroen, vom Schicksal, der Moira. Der Glaube an das Orakel gehört zu einem Weltbild, das uns erschrecken muss. Kann das Aussterben unserer Spezies noch verhindert werden, oder ist uns das Ende schon geweissagt?

Köhlmeier: Wenn die Spannung im Theater davon abhinge, zu sehen, was als Nächstes passiert, dann wäre sie ja nur bei einer Uraufführung gegeben. Die Stücke der alten Griechen wurden selten ein zweites Mal aufgeführt. Keine Wiederaufnahmen, nur Neues. Die Leute interessierte die Frage, wie läuft das Geschehen ab? Wie – nicht was passiert. Das wussten sie. Was macht der Dichter daraus? Das war die Frage. Ganz deutlich wird das bei Ödipus. Der erfährt erst im Nachhinein, was überhaupt mit ihm geschehen ist. Das Publikum wusste es.

STANDARD: Im Schlussstück der "Orestie", den "Eumeniden", werden die Rache- zu Schutzgöttinnen. Sie, Herr Nunes, wollen aus deren Perspektive erzählen lassen.

Nunes: Die Erinnyen sind wieder da und kratzen an unserem Rechtsstaat. Ein guter emotionaler Ausgangspunkt. Der dritte Teil der "Orestie" ähnelt ja einem Ausstieg aus der Form der Tragödie: ein Kunstgriff. Da hat sich Aischylos tatsächlich etwas getraut. Scharf und kritisch ist das aber nur, wenn man es auf die damalige Demokratie im alten Griechenland bezieht. Der Adel war gerade abgesetzt worden und durfte nur noch die Blutrache verwalten. Was gibt es heute dazu zu sagen, jetzt, wo doch große Verwirrung herrscht? Demokratie ist permanenter Streit, permanenter Diskurs, aber auch permanent verhinderter Krieg. Jetzt, wo sich der Ton in der öffentlichen Auseinandersetzung verändert, rücken wir immer näher an bürgerkriegsähnliche Zustände.

STANDARD: Das meint, mit Blick auf den Schicksalsbegriff?

Nunes: Das Tolle an den Griechen ist, sie glauben an die Determinierung allen Handelns, und trotzdem handeln sie und versuchen, ihrem Schicksal zu entfliehen.

STANDARD: In der "Orestie" gibt es diese Formel des Menschlichen: tun, leiden, lernen ...

Köhlmeier: Prometheus hat uns ja geschaffen, nicht Zeus. Er hat uns als lernfähige Versager gemacht. Das ist eigentlich ein unglaublich gutes Programm. Daher rührt auch das fassungslose Staunen Zeus', dass wir, gegen jede Vernunft und Einsicht, nicht unterzukriegen sind. Der Held, der Heros, ist jemand, der sich via Stammbaum von einem Gott ableitet. Es gibt die Überlegung, dass dies ein Versuch von Zeus war, den Fuß in die Tür zu bekommen. Dass er bei uns Menschen mitmischen kann.

STANDARD: Inwiefern?

Köhlmeier: Die Menschen sind ihm aus dem Ruder gelaufen, wir werden im Olymp bewundert, von Athene, von Hermes, von Apoll, es besteht Gefahr, dass Zeus abgehängt wird. Er möchte das Sagen haben und behalten. Da hat er die Geschlechter der Heroen gezeugt.

Nunes: Er hat damit eine herrschende Klasse eingeführt, eine Oberschicht. Mit der er die Menschen unter Kontrolle halten will.

STANDARD: Es ist also nicht weit her mit der menschlichen Autonomie?

Nunes: Wir Menschen sind komplett berechenbar, wir besitzen eine einzige Batterie: dieses Trotzdem. Das Beharren auf Freiheit.

Köhlmeier: Wir sind Kinder des Titanen, nicht der Götter. Das schwingt immer mit. Zwischen den Menschen und den antiken Göttern gibt es keine Liebesgeschichte wie zwischen dem biblischen Gott und uns. Auch wenn das eine neurotische Geschichte ist, ist es doch eine Liebesgeschichte.

Nunes: Bei Wahlen wird nicht darüber geredet: Was denken und brauchen die Menschen? Sondern darüber: Wie bringt man die Menschen dahin, etwas oder jemanden zu wählen? Wer besitzt die besten Strategien? Dabei werden Wahlen als Ausdruck unserer Freiheit angesehen. Nur behandelt man uns Wähler wie Zahlen.

STANDARD: Die "Ilias" erzählt vom Zorn des Achilles. Zorn ist das Hauptthema einer der ältesten Menschheitsdichtungen. Feiert der "Zorn", und sei es als Ressentiment, nicht gerade ein Comeback in unseren Breiten?

Köhlmeier: Fokussieren wir auf den Zorn des Achill. Er ist der größte Held und der am meisten umworbene Krieger. Und doch rührt sein Zorn daher, dass er nicht genug geschätzt wird. Eine Kränkung ist ihm zugefügt worden. Da steht er nicht drüber, nein. Agamemnon hat ihm seine Sklavin weggenommen. Achill empfindet sich als Verlierer. Er tritt mit seinem Heer, der Völkerschaft der Myrmidonen, in den Kriegsstreik.

STANDARD: Die Parallele zu heute wäre?

Köhlmeier: Wenn man mich nicht wahrnimmt, nicht schätzt und nicht anerkennt, wenn ich gekränkt werde, dann soll die Welt abbrennen!

Nunes: Wohnt das dem Menschen nicht ohnehin inne? Es ist nie genug. Der Narzissmus eines Donald Trump ist nicht damit besänftigt, dass er jetzt das höchste Amt in den USA innehat. (Ronald Pohl, 15.3.2017)