Die echte Stefanie Sargnagel ist keinesfalls mit der fiktiven Stefanie Sargnagel zu verwechseln. In Internetforen verschwinden solche Nuancen schnell einmal.

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Die großen Fragen der Menschheit haben in letzter Zeit den Elfenbeinturm verlassen und werden am Biertisch oder in den Foren des weltweiten Netzes leidenschaftlicher diskutiert als in den Hörsälen der Universitäten. Was ist Kultur? Sollen Religion und Staat getrennt sein? Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit? Und so weiter.

Seit kurzem schafft es sogar die verstaubt und akademisch wirkende Frage "Was ist Literatur?", mit beachtlichem Esprit quer durch die Gesellschaft diskutiert zu werden. Zuerst gewann mit Bob Dylan das erste Mal ein Songwriter den Nobelpreis für Literatur, und jetzt bekamen Stefanie Sargnagel und Lydia Haider auch noch je 750 Euro Reisekostenzuschuss für eine literarische Recherche in Marokko.

Es ist immer positiv, wenn über Kunst diskutiert wird. Aber vielleicht sollte man dies statt mit aggressiver Arroganz lieber mit einer gewissen Demut tun, ähnlich wie man konzentriert versucht, die Leistungen der Physiknobelpreisträger zumindest ansatzweise fragend zu verstehen.

Der Standard veröffentlichte im Album Auszüge aus dem marokkanischen Gemeinschaftstagebuch der Autorinnen Haider, Sargnagel und Maria Hofer, was Doris Knecht am 3. März im Falter zu dem begeisterten Ausruf "ein Traum" hinriss. Am 8. März nahm dann die Kronen Zeitung etwas verspätet, aber dankbar die von Sargnagel liebevoll vorbereitete Maßflanke auf: "Das Bmukk hat mir dafür einen Reisekostenzuschuss gewährt. (Für die Literatur.) Wenn das die FPÖ wüsste." Es war dann aber eben nicht die FPÖ, sondern die Krone, die den Köder schluckte. Online-Chefredakteur Richard Schmitt titelte seinen Artikel "Saufen und kiffen auf Kosten der Steuerzahler". Innerhalb kürzester Zeit gab es 300 Kommentare zum Thema, die fast einstimmig zu der Erkenntnis kamen, dass es sich bei Sargnagels und Haiders Text nicht um Literatur handelte.

Wobei die Krone ihren Leserinnen und Lesern kaum einen anderen Schluss ermöglicht hatte, denn gleich zu Beginn des Artikels wies der Chefredakteur darauf hin, dass eine der Autorinnen schrieb, eine "Babykatze zur Seite" getreten zu haben. Die Literatur darf vieles, sogar grau getönten Sadomaso – aber kratzig singen und Katzen treten geht dann doch zu weit.

Der Standard berichtete am 11. März über diesen Krone-Artikel und die teilweise jenseitigen Postings gegen Sargnagel und Haider und folgerte, dass wohl Neid eine große Rolle dabei spielt, wenn den Schriftstellerinnen da einfach ein Urlaub bezahlt wurde. Dass Leute, die vielleicht selbst Sozialleistungen beziehen, mit Hass darauf reagieren, wenn Künstlerinnen (die jahrelang rund um die Uhr an ihrem Werk arbeiten und auf ein sicheres Einkommen verzichten) ab und zu vom Staat eine kleine Anerkennung bekommen, ist zwar traurig, aber vielleicht sogar nachvollziehbar.

"Das mach' ich auch" ist ein durchaus legitimer Impuls und im Gegensatz zu (viel höher dotierten) Physikstipendien tatsächlich jedem alphabetisierten Menschen möglich. Doch Literaturstipendien sind nicht leicht zu bekommen. Das künstlerische Vorhaben muss genau argumentiert und belegt werden. Auch das könnte eine der Definitionen von Literatur sein: Geht so ein Antrag durch, dann ist es Literatur. Und wenn nicht, auch. Was ist also Literatur? Manche sagen, alles Geschriebene, andere, nur kanonisierte Werke, nur Faust und Hamlet. Wie dem auch sei, eines ist Literatur mit Sicherheit nie: ein genaues Abbild der Realität.

Ich ist ein anderer

Und das ist der Aspekt der Diskussion, der besonders hervorgestrichen gehört, da er eine Falle darstellt, in die man auch jenseits der Kronen Zeitung tappen könnte: Es handelt sich bei dem Reisebericht der Schriftstellerinnen um ein Produkt der Fiktion. Auch wenn sie ihre eigenen Namen verwenden, auch wenn sie reale Fakten beschreiben, auch wenn sie den Text Tagebuch nennen. Jeder literarische Text ist fiktiv, und man darf niemals, NIEMALS, realen mit fiktivem Autor verwechseln, die real existierende Schriftstellerin mit der in den Text eingeschriebenen Erzählerin.

Schon Goethe hielt in einem Brief an König Ludwig von Bayern im Dezember 1829 fest, dass es keine Autobiografie geben kann, ohne "das dichterische Vermögen auszuüben". Wie viel mehr gilt das heutzutage, wo das autofiktionale Spiel mit dem Ich gerade dabei ist, dem Roman seinen Rang abzulaufen. Dabei hat Sargnagel ihren Text ohnehin deutlich als Produkt der Fantasie gekennzeichnet, indem sie abenteuerliche Übertreibungen verwendet: "Heute hat Lydia dreizehn Flaschen Wein getrunken. Maria hat mit dem Muezzin geschmust."

Es hat nichts genutzt, der Krone-Artikel verbreitet sich unkontrolliert weiter, wo Arbeitslager und Todesstrafe für die Autorinnen gefordert werden. Aber eigentlich ist es ja schön, wenn das Bild des Schriftstellers noch immer dem romantischen Ideal der von der Muse geküssten Autorin entspricht; dass die trunkene Schriftstellerin plausibler erscheint als die verzweifelte Managerin ihrer selbst, die Projektanträge ausfüllt und Lesungen plant. (Stefan Kutzenberger, 13.3.2017)