Fatma Aydemir über ihre Protagonistin Hazal: "Meine Absicht war nicht, den Prototyp der guten Ausländerin zu zeigen. Ich wollte eine starke und eigenwillige Persönlichkeit schaffen."


Foto: Bradley Secker

STANDARD: Ihre Protagonistin, die 17-jährige Hazal, deren Eltern aus der Türkei einwanderten, lebt zwischen zwei Welten, sie sucht vergeblich ihren Platz. Warum haben Sie sich ihres Schicksals angenommen?

Fatma Aydemir: Es war die Suche nach den Ursachen von Gewalt. Die Gewaltszene in der U-Bahn, die ich im Roman schildere, war das Erste, was ich im Kopf hatte. Vor ein paar Jahren kam es in der Berliner U-Bahn häufig zu Gewalttaten. Mich bedrückte und faszinierte dieses Phänomen gleichermaßen. Es gab Erklärungsversuche, warum gewalttätige Jugendliche aus bestimmten sozialen Brennpunkten oder ihre Eltern aus bestimmten Regionen kommen. Mir erschienen sie unzulänglich. Da werden schnelle Antworten auf große Fragen gesucht. Außerdem war der Blick immer auf Männer gerichtet. Ich wollte über eine Frau schreiben.

STANDARD: Hazal erfüllt alle Vorurteile: Sie klaut, trinkt Schnaps, raucht Joints und interessiert sich weder für die Schule noch dafür, wie man Bewerbungen schreibt ...

Aydemir: Das kann man ihr vorwerfen. Ihre Tante Semra tut das auch. Ich kenne diese Erwartungen an junge Menschen, sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Nach der Pubertät, in der man Extreme austestet, versucht man, normal zu wirken, um in einen Job hineinzufinden. Für mich ist diese Vorstellung traurig. Leider entspricht sie der Realität. Meine Absicht war nicht, den Prototyp der guten Ausländerin zu zeigen. Ich wollte eine starke, eigenwillige Persönlichkeit schaffen, die sich abschottet von äußeren Erwartungen.

STANDARD: Befremdlich wirkt die männlich geprägte Sprache der Mädchen. Ist das ein Merkmal für fehlende weibliche Identität?

Aydemir: Das hängt mit den Strukturen zusammen, in denen sich die jungen Frauen und wir alle uns befinden. Macht ist männlich konnotiert. In gewissen Machtpositionen sieht man nur Männer. So bedienen sich die jungen Frauen dieses männlichen Codes, um Macht auszustrahlen. Tatsächlich aber schwimmen sie zwischen zwei Extremen. Zum einen gibt es den Wunsch, feminin zu wirken, sich übertrieben zu schminken und in High Heels sexy auszusehen. Zum anderen ist da dieses Jungsgehabe. Das ist eine Identitätssuche, die mit der Pubertät zusammenhängt. Sobald man anfängt, seinen Körper anders wahrzunehmen, denkt man aktiv über Geschlechterrollen nach.

STANDARD: "So wirke ich wie eine verklemmte Jungfrau. Aber ohne Hose wäre ich wie eine Nutte gewesen. Gibt es denn immer nur diese beiden Möglichkeiten?" – Genau diese Frage stellt sich beim Lesen Ihres Romans. Fehlt es an inspirierenden Frauenbildern?

Aydemir: Es gibt sie schon. Die Frage ist, inwieweit sie erreichbar sind. Hazal hat ihre Tante Semra, die sie anfangs bewundert. Hazal erkennt an, dass diese Tante etwas erreicht hat, gebildet ist, einen guten Job hat und nicht heiraten muss, sondern ihr eigenes Leben führen kann. Tante Semra ist ein Vorbild für Hazal. Aber zugleich erscheint ihr das für sie selbst unerreichbar. Darum hadert sie die ganze Zeit über damit und setzt sich selbst Grenzen. Sie beschäftigt sich dauernd mit dem Blick, den andere auf sie werfen. Wie sie von außen wahrgenommen wird, so nimmt sie sich selbst wahr.

STANDARD: Ist das symptomatisch für Mädchen mit Migrationshintergrund?

Aydemir: Ja. Aber man kann es nicht darauf beschränken. Auch Mädchen, die keinen Migrationshintergrund haben, setzen ihrer Persönlichkeit Grenzen. Viele haben nicht genug Selbstverstrauen. Es fehlt das Umfeld, das ihnen dieses Selbstvertrauen geben könnte.

STANDARD: Hazal und ihre Freundinnen Elma und Gül scheinen kein sexuelles Begehren zu kennen. Lässt ein patriarchalisch geprägtes Geschlechterverhältnis weibliche Lust nicht zu?

Aydemir: Ich würde ihnen die Lust nicht absprechen. Gül zum Beispiel sehnt sich danach, mit einem Mann intim zu sein. Hazal ist enttäuscht, als sie ihre erste sexuelle Erfahrung macht. Die Teilnahmslosigkeit aber, mit der sie ihren ersten Sex erlebt, hat weniger mit ihrem sexuellen Begehren zu tun als mit der Tatsache, dass man nicht automatisch Lust empfindet, nur weil man mit einem Mann schläft. Vor allem, wenn man jung ist und sich weniger aus einem Begehren als vielleicht aus einer Neugier heraus einlässt. Sex ist per se nicht immer etwas Tolles, vor allem wenn, wie bei Hazal, nicht klar ist, was einvernehmlich geschieht und was nicht.

STANDARD: Gerade die alten Frauen, die selbst unter dem Patriarchat leiden, halten es aufrecht. Ist das nicht merkwürdig?

Aydemir: Kennen Sie das nicht, dass ältere Frauen dazu neigen, die Machtverhältnisse von Frau-Mann nicht infrage zu stellen? Im Roman spiele ich damit. Hazal kocht Tee für ihre Eltern. Und die Oma hat zu Hazals Bruder eine viel innigere Beziehung als zu Hazal. Sie will ihn bekochen und knutschen. Ich habe das Gefühl, für einige Leser meines Romans erscheinen diese Szenen wie ein exotisches Problem. Das ist es aber nicht. Wenn man es aus einem größeren Zusammenhang betrachtet, ist da eine Verbindung auszumachen zwischen Hazal, die selbstverständlich für ihre Eltern Tee kocht, und der jungen weiblichen Assistentin, die in internationalen Unternehmen männlichen Firmengästen Getränke serviert. Das Patriarchat hält sich nur so lange am Leben, wie es von den Betroffenen nicht hinterfragt wird. Oma kommt aus ihrer Rolle nicht heraus. Die Mutter wird sogar krank und depressiv, weil sie so unglücklich ist.

STANDARD: Es gibt Versuche, die Emanzipation der Frauen von außen anzustoßen, das zeigt die Diskussionen um ein verordnetes Kopftuchverbot. Ist das hilfreich?

Aydemir: Überhaupt nicht. Man will damit von außen eine Frau befreien, indem man ihr etwas verbietet. Das ist paradox.

STANDARD: Verlangt man Menschen mit Migrationshintergrund etwas als selbstverständlich ab, zu dem man sich hier über Jahre mühsam durchringen musste?

Aydemir: Da kommt noch etwas anderes hinzu. Es hat lange gedauert, bis man anfing, festzustellen, dass diese Gastarbeiter Menschen sind, die bleiben. Nach Jahren der Isolation auf einmal schockiert zu sein, dass innerhalb der Familien andere Bedingungen herrschen als draußen auf der Straße, und mit dem Zeigefinger zu kommen, finde ich wenig sinnvoll. Jahrzehntelang fand kein Dialog statt, und plötzlich hieß es: Wie ihr miteinander sprecht und eure Frauen behandelt, geht so nicht. Integration wurde zu einem Modewort der letzten Jahre. Aber so funktioniert sie nicht. Das ist ein Prozess von beiden Seiten, der Zeit braucht.

STANDARD: Welche Rolle spielt dabei die soziale Problematik?

Aydemir: Eine große. Das merkt Hazal auch. In Deutschland definiert sie sich über die Ausländerrolle und die Grenzen, an die sie stößt. Aber als sie in die Türkei flieht, trifft sie auf dieses Mädchen Gözde, das sie kurzzeitig bei sich aufnimmt. Gözde wuchs in völlig anderen Verhältnissen auf. Sie beschäftigt sich mit anderen Themen und spricht eine andere Sprache. Da wird Hazal bewusst, welche Bedeutung die soziale Komponente hat. Ihre Probleme bestehen eben nicht nur darin, dass ihre Eltern aus der Türkei stammen, sondern dass sie aus Arbeiterverhältnissen kommt. Es wäre schön, wenn sie Arzthelferin geworden wäre, meint ihre Mutter einmal. Weiter denkt sie gar nicht. Hazal aber hat nicht einmal das erreicht.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Argument, Bildung sei das Sprungbrett zum sozialen Aufstieg?

Aydemir: An dieser Vorstellung würde ich gerne festhalten. Aber sie scheint mir überholt. Zum einen schafft es nicht jeder, der studieren will, auf die Universität. Das hat mit dem Schulsystem zu tun, das unfair und rassistisch sein kann und mit dem nicht alle zurechtkommen. Man ist darauf angewiesen, welchen Lehrer oder Direktor man vor sich hat. Auch gibt es zu viele Beispiele von Menschen, die eine gute Ausbildung haben, aber dennoch unterbezahlt sind oder überhaupt keine Arbeit finden. Natürlich kommt es darauf an, wie man sozialen Aufstieg definiert. Aber ich fürchte, dass das Versprechen, durch Bildung sozial aufzusteigen, nicht mehr eingelöst wird, wenn man damit Geld und Sicherheit verbindet.

STANDARD: Die Türkei, in die Hazal flieht, hat sich unter Erdoggan in eine Autokratie verwandelt ...

Aydemir: Hazal flieht in die Türkei, weil sie ein verfremdetes Bild von Istanbul hat. Die Stadt ist für sie wie für viele junge Deutschtürken ein Sehnsuchtsort. In Wirklichkeit ist Istanbul ein schrecklicher Betonhaufen. Die Menschen stehen unter dem Druck, den die restriktive Staatspolitik auf sie ausübt. Hazal wird davon überrascht. Nicht nur Erdogan, auch rechtskonservative Strömungen in den USA oder in Europa hängen stark mit dem Patriarchat zusammen. Sie erhalten es aufrecht, stärken es. Wenn ich Lösungsansätze sähe, würde ich in die Politik gehen statt in die Literatur. (Ruth Renée Reif, Album, 12.3.2017)