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EU-Kommissionspräsident Juncker erinnert an den Erlkönig.

Foto: REUTERS/Francois Lenoir

Vor einem Jahr haben wir mit Sorge festgestellt, dass Europa im Zerreißen ist, und dieser Prozess geht weiter. Es gibt keine Solidarität, viele Aktionen in Brüssel laufen diametral und zentrifugal. Die Lage ist beängstigend.

Im "Erlkönig" beschreibt Goethe die zwingende Not des Vaters, so rasch als möglich ärztliche Hilfe für sein Kind zu bekommen. Er reitet mit allen Kräften bei Wind. So kommt einem Jean-Claude Juncker vor, der in seinen Armen das Kind Europa trägt. Im Fieberdelirium hat das Kind verschiedene Visionen, der Vater beruhigt.

Die Verfassung Europas

Welche Vorstellungen werden wach? Zum ersten Mal wird von einem geteilten Europa gesprochen, 19 + 8 EU-Staaten, oder sogar von einem Kerneuropa, wie vor kurzem postuliert. Beim stolzen Baum Europa ist ja ohnedies ein Ast durch den Brexit weggebrochen. Man kann nicht mit einer Säge sieben bis acht weitere Äste (EU-Staaten) absägen.

Wenn man von Europa mit den verschiedenen Geschwindigkeiten spricht und davon, dass man konzentrisch vorgehen muss, so darf man nicht vergessen, dass das eigentlich nicht dem historischen Europa entspricht. Europa ist wesentlich größer. Nur ein Teil Europas ist innerhalb der Europäischen Union. Aber das Absägen von Ästen nützt nichts, wenn man keine Konstitution, keine Verfassung hat. Es schreit nach einer Verfassung, um dementsprechend zu handeln. Derzeit sehen die Handlungsfähigkeiten nach Ad-hoc aus, wobei ein Teil aktiv ist und der andere Teil konterkariert. Vier Präsidenten versuchen zu bestimmen.

Kritischer Punkt Sicherheit

Hand in Hand mit der Verfassung geht die Sicherheit. Beim Schengen-Vertrag wurde uns versprochen, dass die Landesgrenzen nach außen gelegt werden, und diese sollten beschützt werden. Wie wir in den Zeitungen lesen, ist das nicht der Fall, und eine Flüchtlingswelle nach der anderen überschreitet unsere Grenzen, wodurch in den Ländern selbst neue Schwierigkeiten im Umgang mit den Flüchtlingen kommen, deren Beherrschung an einigen Orten nicht gerade human erscheint.

Natürlich kann Europa noch genügend Flüchtlinge aufsaugen, aber es wird der kritische Punkt erreicht werden, wo es nicht mehr geht. Die Flüchtlingswellen haben es an sich, dass nicht nur Ungebildete, sondern auch Terroristen mitkommen. Das Problem ist auf jeden Fall die Sprache, auch Ausbildung und vor allem die Religionen. Alleine schon beim Feststellen, welche gemeinschaftlichen Feiertage man finden kann, wird es schwierig. Innerhalb von Europa beginnt die Sicherheit besser zu werden, die Polizeidienste akkordieren sich zunehmend.

Euro auf schwachen Beinen

Ein großes Problem ist der Euro. Es waren schon Finanzkrisen vorhanden, und der Euro steht, wie unser Ehrenmitglied Joseph E. Stiglitz sagt, auf ganz schwachen Beinen und droht jeden Moment umzukippen. Es ist ein zwingender Handlungsbedarf gegeben, einen neuen Euro-Markt zu bekommen, der auch politisch sicherlich die Verfestigung in Europa vorantreiben kann.

Wir sprechen immer davon, dass eine Generalinventur in Europa angezeigt ist. Insbesondere gilt die Inventur in Brüssel, wo das Hauptaugenmerk darauf zu legen ist, dass wieder subsidiär viele Einrichtungen in die Länder zurückkommen. Das sind letztlich altbekannte Feststellungen, aber es sind keine Fortschritte zu sehen. Wenn man von Inventur in Europa spricht, so ist aber auch die Solidarität anzumahnen. Die fehlende Solidarität kann nicht durch Astabschneiden beherrscht werden.

"Next Europe"

Aus all dem heraus bleibt das Bild vom Goethe-Gedicht vor Augen, dass der Vater zum Tor kommt, wo dem Kind geholfen werden sollte, aber das Kind bereits tot ist. So weit wollen wir es aber wirklich nicht kommen lassen. Die Zukunft sollte neben einer Inventur, neben einer Konstitution auch über eine Neudefinierung von Europa gedacht werden, um dann effektuiert zu werden. Europa, und das ist symptomatisch, wird derzeit von vier Präsidenten mit verschiedenen Ansichten gelenkt: dem Kommissionspräsidenten, dem Parlamentspräsidenten, dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem turnusgemäßen Präsidenten des Rates der Europäischen Union, nach außen sollte eine Beauftragte die Kontakte knüpfen.

Die Initiative "Next Europe" mahnt ein, dass wir mit einer Verfassung beginnen müssen, mit einer Inventur, um wiederum eine Subsidiarität zu erreichen. Was ist Europa, wie soll man es steuern? Es ist sicherlich eine andere Form der Finanzierung notwendig, wie zum Beispiel eine Europasteuer. Natürlich kann man in der heutigen Situation rasch negativ, aufgebend denken. Das tun wir nicht, denn nach Hölderlin wächst, "wo Gefahr ist, das Rettende (Next Europe) auch". (Felix Unger, 13.3.2017)