Als Google im Mai 2007 seinen neuartigen Dienst startete, mit dem man die Welt bequem von zu Hause aus erkunden kann, jubelten alle, die auf diese Möglichkeit sehnsüchtig gewartet hatten. Google Street View war geboren. Urlaubsreisende konnten nun noch vor Antritt der Reise die Umgebung des gebuchten Hotels in Augenschein nehmen, Vielfahrer die Route der Dienstreise genauer erkunden und Geografie-Aficionados stand dem Bereisen ferner Länder am Computerbildschirm nichts mehr im Wege – außer datenschutzrechtliche Bedenken, weshalb der weitere Ausbau von Street View in einigen Ländern – auch in Österreich – zwischenzeitlich zum Erliegen gekommen ist.

Für uns ist das mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden. Bemerkenswert ist es aber, dass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der auf Landkarten und Atlanten spezialisierte Verlag Rand McNally einen ganz ähnlichen Ansatz verfolgte. Seit 1904 produzierte Rand McNally Straßenkarten für die USA – damals eine echte Marktlücke – da die Zahl an Besitzern von Automobilen mit dem unaufhaltsamen Siegeszug der Motorisierung von Jahr zu Jahr anstieg.

Ein gedrucktes Navi

Und da auch die Entwicklung der Fotografie in jenen Tagen große Fortschritte machte, hatte der Verlag die bestechende Idee: Man könnte doch wichtige Straßenrouten in den USA mit Fotos bebildern, um damit Automobilisten, die eine Strecke erstmals befahren, die Orientierung zu erleichtern. Denn damals waren die Straßen noch nicht beschildert, die ersten Verkehrszeichen hielten erst später – mit zunehmendem Verkehrsaufkommen – Einzug auf die Straßen des Landes.

Ein Foto an jeder Abzweigung, zusätzlich Pfeile, die die Richtung angeben – ganz ähnlich den modernen Navigationssystemen und Street View-Anwendungen. 

Pfeile weisen den Weg durch das Verkehrschaos.
Foto: David Rumsey Map Collection

So entstand im Laufe der nächsten Jahre eine Vielzahl dieser "Rand McNally Photo-Auto Maps and Guide Books". Mit Sicherheit eine echte Wohltat für geschundene Autofahrer, die in ihren klapprigen Ford- und Locomobile-Wägen über Straßen fuhren, die eher Schotterwegen glichen und sich bei Regen auch schon mal in ein Schlammbad verwandeln konnten. Immerhin hatte man ja den Foto-Auto-Atlas zur Hand und wusste immer, wo man demnächst abbiegen musste. Auch am Zielort angekommen konnte man ruhig schlafen, ohne Angst sich bei der Rückfahrt zu verirren, denn im Fotoatlas war auch die Rückreise mit vielen Bildern festgehalten.

Hier eine Auswahl an Fotos aus dem Rand McNally Photo-Auto Maps and Guide Book für Fahrten von New York nach Albany und Saratoga Springs – und zurück.

Folgen Sie dem Pfeil. Auch Entfernungsangaben sind inkludiert.
Foto: David Rumsey Map Collection
Unterwegs auf holpriger Fahrbahn. Telegrafenmasten bieten einen Anhaltspunkt.
Foto: David Rumsey Map Collection
Fahren Sie doch einfach mal ein "S".
Foto: David Rumsey Map Collection
Scharf links abbiegen.
Foto: David Rumsey Map Collection
Schleichwerbung inklusive! John L. Silleck betreibt die beste Autowerkstatt.
Foto: David Rumsey Map Collection
Auch in karger Landschaft verlor man das Ziel nicht aus den Augen.
Foto: David Rumsey Map Collection
Immer geradeaus – an den Pferdewagen vorbei.
Foto: David Rumsey Map Collection
Im Dschungel der Großstadt.
Foto: David Rumsey Map Collection
Eine der etwas gefinkelteren Weggabelungen.
Foto: David Rumsey Map Collection
Auch Schleichwege kannte der innovative Reiseführer.
Foto: David Rumsey Map Collection
Ein Lob der simplen Straßenführung.
Foto: David Rumsey Map Collection
Im Sauseschritt geht's zügig auf menschenleeren Straßen dahin.
Foto: David Rumsey Map Collection
Kinderhook: Männer, die auf Autos (und Fotografen) starren.
Foto: David Rumsey Map Collection
Und schon damals: Menschen, die unbedingt am Bild verewigt sein möchten.
Foto: David Rumsey Map Collection
Die Schienen der Straßenbahnen boten einen Anhaltspunkt zur Orientierung.
Foto: David Rumsey Map Collection

Mit zunehmendem Straßenverkehr – und den damit verbundenen, immer längeren Autofahrten – wurde aber schon nach wenigen Jahren das Ende dieser wunderbaren Idee bebilderter Auto-Reiseführer eingeläutet. Der Aufwand wäre wohl ins Unermessliche gestiegen. Atlanten mit Hunderten von Seiten, tausenden Bildern wären notwendig gewesen, um den steigenden Bedarf abzudecken. Das Aufkommen von vernünftigen Straßenschildern und Wegweisern, die die Orientierung erleichterten, machte die mit Liebe erstellten Straßenkarten-Bilderbücher schließlich endgültig obsolet. (Kurt Tutschek, 15.3.2017)

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