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"Europa" heißt das neue Ratsgebäude in Brüssel, in dem die Staats- und Regierungschefs ab sofort tagen. Der architektonisch spektakuläre Bau (hier die noch offene Konstruktion im Jahr 2013) wurde gerade fertiggestellt. Das Fundament liegt zwischen U-Bahn und Eisenbahntrasse, was die Bauform einer Vase bedingte.

Foto: AP / Virginia Mayo

Oft sind es die ganz kleinen Zeichen und Widersprüche, die über den Zustand der Europäischen Union mehr aussagen als die großen Erklärungen ihrer Spitzenpolitiker.

Jean-Claude Juncker gilt in den Hauptstädten der Mitgliedsländer wie in Brüssel als Meister der listig verpackten Botschaften. Vergangenen Mittwoch war es wieder einmal so weit. Der Präsident der EU-Kommission trat im Europaparlament auf. Exklusiv sollte er dem Plenum jene Beschlüsse zu einer umfassenden Reform der Gemeinschaftsverträge vortragen, die sein Kollegium erst am Abend davor in einer extra einberufenen Sitzung gefasst hatte.

So lautete zumindest die Ankündigung. Die in der Regel besonders reform- und integrationsfreudigen EU-Abgeordneten sollten als Erste erfahren, wohin die Reise der Union nach dem angekündigten EU-Austritt Großbritanniens 2019 als "EU-27" gehen soll; und wie sich die zentrale Gemeinschaftsbehörde den "Fahrplan" vorstellt. Ein "Weißbuch" dazu hatte Juncker im September angekündigt, rechtzeitig vor dem Jubiläumsgipfel "60 Jahre Römische Verträge" Ende März in Rom.

Mit solchen "Büchern" – Erklärungen mit Farbnamen – referieren Regierungen traditionell seit vielen Jahrzehnten weitreichende Pläne. "Grünbücher" sind Sammlungen von Ideen, haben bloß den Sinn, eine breite offene Diskussion zu starten. "Weißbücher" stehen für ganz konkrete Inhalte und Pläne, inklusive Zeitangaben.

"Berühmt" wurde etwa 1985 das Weißbuch des damaligen Kommissionschefs Jacques Delors zum Konzept des Binnenmarktes: Der kam 1993, wie beschrieben.

Bei Juncker nahm die Sache mit der EU-Reform einen ungewöhnlichen Verlauf. Je länger er redete, desto größer wurde die Unruhe im Plenarsaal. Der Präsident trug keinen Reformplan vor, an den man sich halten könnte. Im Gegenteil, er referierte nicht weniger als fünf möglichen "Szenarien" einer auf 27 Staaten reduzierten Union.

Man könne so weitermachen wie bisher, zäh, mit mäßigen Erfolgen, von Klimaschutz bis Energiepolitik, erklärte er. Man könne im Sinne der erstarkten Nationalstaaten die Union inhaltlich abspecken, ihr Kompetenzen wieder entziehen. Oder man einige sich auf das Konzept Kerneuropa: Staaten könnten bei gewissen Politiken wie Sozial- oder Verteidigungspolitik à la carte gemeinsame Sache machen, in Gruppen den anderen vorangehen. Schließlich gebe es aber auch das Modell der tiefen Integration, bis hin zur gemeinsamen EU-Armee.

Erst Wahlen, dann Reform

Juncker ließ Sympathie für mehr Integration erkennen. Aber er legte sich nicht fest. Alles ist möglich: Fortschritt oder Abbau.

Bei den Abgeordneten breitete sich Ernüchterung aus. Enttäuschend sei das, sagte der Fraktionschef der Sozialdemokraten, Gianni Pitella. Juncker habe "kein Weißbuch, sondern ein Grünbuch vorgetragen", konstatierte ein Kenner jahrzehntelanger EU-Reformpraxis: Wenn selbst die Kommission keine Orientierung darüber gebe, was kommen solle, dann sei Stillstand programmiert.

Mit dem "grünen Weißbuch" hat Juncker – unfreiwillig, aber notgedrungen – auf den Punkt gebracht, in welchem Zustand sich die Union im Frühjahr 2017 befindet: Es heißt abwarten, bis andere wesentliche Entscheidungen in wichtigsten EU-Staaten fallen; konkret Großbritannien, Frankreich, Deutschland. Erst dann kann man ernsthaft weiterreden.

Die Mitgliedstaaten forderte der Kommissionschef auf, sich selbst zuerst einmal klarzuwerden, was sie wollten. Folgerichtig will er erst im Herbst einen konkreten EU-Reformvorschlag machen.

Wie weit die Vorstellungen der Mitgliedstaaten vor dem jüngsten EU-Gipfel am Donnerstag auseinanderliegen, zeigte sich gleich in den Tagen nach der Juncker-Rede im EU-Parlament. Die vier Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei wollen ein eigenes Konzept beisteuern und die Nationalstaaten stärken.

Die Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien hingegen kamen am Montag in Versailles überein, dass es Richtung Junckers Szenario Nummer drei, zur Union der "verschiedenen Geschwindigkeiten" in Staatengruppen, gehen solle.

Insgesamt ergibt das eine Lähmung: Erschwerend ist, dass in den Schlüsselländern Frankreich und Deutschland Wahlen unmittelbar bevorstehen. Und Großbritannien hat den Antrag auf EU-Austritt nach wie vor nicht gestellt. Also sind auch die Konsequenzen für die Rest-EU nicht einmal im Ansatz absehbar. (Thomas Mayer aus Brüssel, 9.3.2017)