Bild: Hersteller
Bild: Hersteller
Bild: Hersteller
Bild: Hersteller
Bild: Hersteller
Bild: Hersteller
Bild: Hersteller

Eigentlich ist der Genrebegriff "Fantasy" in vielen Fällen fehl am Platz: Wenn die immergleichen Orks, Elfen, Drachen und Zauberer in endlosen Tolkien-Epigonen die immerselben Kriege mit Schwert und Magie führen, ist es mit Fantasie nicht weit her. Das betrifft Literatur und Film ebenso wie das Medium Computerspiele, in dem allzu oft nur Altbekanntes wiedergekäut wird. Ein zeitloser Klassiker des Rollenspielgenres hat bereits 1999 auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass es auch ohne Genreklischees geht: "Planescape: Torment" der "Fallout"-Macher Black Isle war ein Rollenspiel, das nicht nur durch seine gut geschriebene, philosophische Fragen stellende Handlung im Gedächtnis blieb, sondern vor allem auch durch seine außergewöhnliche Welt, die multidimensionale "Planescape", in der Fantasy, Science-Fiction, Horror und Absurditäten ihre Platz hatten.

"Torment: Tides of Numenera" (Windows, Mac, Linux, PS4, Xbox One, 49,99 Euro) ist so etwas wie ein inoffizieller Nachfolger des unvergessenen Kultspiels – man muss letzteres aber keineswegs gespielt haben, um ins Spiel zu starten. Designerlegende Brian Fargo, Gründer von Interplay und als Schöpfer von "Wasteland" ein Urgestein des modernen Rollenspiels, hat sich mit seinem kleinen Studio InXile auch "Torment" 2013 per Kickstarter vorfinanzieren lassen, und zwar mit der für damalige Verhältnisse rekordverdächtigen Summe von 4 Millionen Dollar.

Das Vertrauen der Unterstützer und die lange Wartezeit haben sich gelohnt: "Torment: Tides of Numenera" ist ein wirklich würdiger Erbe des großen "Planescape" geworden.

Launch-Trailer zu "Torment: Tides of Numenera"
inXile

Das große Staunen

Die Ausgangssituation ist klassisch: Ohne Gedächtnis finden sich Spielerinnen und Spieler in einer bizarren Welt wieder, die an jeder Ecke mit Kreativität überrascht. Eine bizarre Gesellschaft, Insektenmenschen, Kulte, Alien-Technologie, eine geheimnisvolle Vorgeschichte um die eigene Identität und, und, und: Selten werden Spielerinnen und Spieler so im Minutentakt mit neuen Ideen bombardiert wie hier.

Auch wenn die grafische Gestaltung gelungen ist, präsentiert sich dieser Ideenreichtum allerdings hauptsächlich im Text: In Dialogen und Beschreibungen bekommt man in "Torment" vom Umfang her einen der eher fetteren Genreschmöker vorgesetzt, was angesichts seiner Qualität aber nur selten ermüdet. Wer sich vor allem anfangs von dieser Flut überfordert fühlt, findet sich spätestens nach den ersten Stunden besser zurecht.

Choose your own adventure

Spielmechanisch bleibt "Torment" in sicheren Gewässern: Rundenbasierter Kampf mit bis zu vier Party-Mitgliedern, Ausbau der Charaktere, Missions- und Inventory-Management erfolgen mit wenigen Anpassungen nach Genre-Schablone. In den "Krisen" genannten Kampfsituationen, aber auch in Gesprächen oder bei anderen Aktionen können Punkte aus einem Fertigkeitenpool verteilt werden, die sich erst bei Rast wieder erneuern; abhängig vom gewählten Zugang lassen sich allerdings viele Kämpfe vermeiden oder aber durch geschicktes Verhandeln unnötig machen.

Tatsächlich bietet sich – wie häufig im Genre – friedlicheren Spielerinnen und Spielern ein lohnenderes Spielerlebnis als jenen, die ihre Probleme lieber mit Gewalt lösen. Denn die Handlung entfaltet sich letztlich in den Dialogscreens, entweder im Gespräch mit den unzähligen Charakteren dieser Welt oder bei der Auswahl verschiedener Handlungsmöglichkeiten. So gesehen lebt in "Torment" als Nachfahre der klassischen Choose-Your-Own-Adventure-Spielbücher das Erbe des gesamten Rollenspielgenres abseits dürrer Statistik und monotoner Monstertotklickorgien weiter. Ein vorbildliches Journal listet Haupt- und Nebenmissionen samt Kontext, was auch das spätere Wiedereinsteigen ins Abenteuer erleichtert.

Aber, aber, aber

Nebenbei: Wer bis hierher gelesen und der Versuchung widerstanden hat, in den Kommentaren die Diskussion um "Indie oder nicht" loszutreten, bringt jene eine Eigenschaft mit, die in "Torment" wie erwähnt besonders gefragt ist: den Willen, Text – viel Text – zu lesen, und das durchaus konzentriert. Aber ja: Ist das noch Indie? Die Antwort darauf fällt, wie es auch im Spiel selbst häufig der Fall ist, durchaus uneindeutig aus.

Dass ein Spiel, das vor Jahren als Inbegriff des Goldstandards im AAA-Rollenspielgenre gezählt hätte, nun von einem vergleichsweise kleinen Team unabhängig, zum Teil durch Crowdfunding finanziert und entwickelt wurde und als erster Titel beim polnischen Neo-Publisher Techland untergeschlüpft ist, zeigt deutlich, dass die Klassifizierung komplexer ist als noch vor Jahren. Als Nischenspiel, das fernab von publisher-kontrollierter Entwicklung entstanden ist, täte man "Torment" aber auch mit anderen Labels Unrecht. Und überhaupt: Es ist kompliziert.

Gameplay-Video zu "Torment: Tides of Numenera"
inXile

Fazit

Nicht nur Freunde des Kultspiels "Planescape: Torment" dürfen sich auf jeden Fall freuen: "Torment: Tides of Numenera" ist ein prachtvolles Fest für Rollenspieler, die Wert auf Story, Atmosphäre und knifflige Entscheidungen legen. Seine Welt lässt den Großteil anderer fiktiver Settings hinter sich, verblüfft mit fantasievollen Miniaturen ebenso wie großen Storybögen und einzigartigen Charakteren. In den über 30 Stunden seiner Handlung entführt es Spielerinnen und Spieler in eine liebevoll gestaltete Welt, die Raum für freie Entscheidungen und eigene Zugänge lässt.

Und es ist noch ein weiterer Beweis dafür, dass in klassischen Spielkonzepten wie dem isometrischen Rollenspiel noch unendlich viel Leben steckt – und dass es zu Recht noch unzählige, nicht nur nostalgieverklärte Menschen gibt, die daran ihre Freude haben. Wer sich vom Lesen großer Mengen Text nicht abschrecken lässt, wird mit einem außergewöhnlichen Erlebnis belohnt. "Torment: Tides of Numenera" ist ein würdiger Nachfolger eines einzigartigen Kultspiels. Das ist eigentlich das größte Lob, das man aussprechen kann. (Rainer Sigl, 4.3.2017)

"Torment: Tides of Numenera" ist für Windows, Mac, Linux, PS4 und Xbox One erschienen. UVP: 49,99 Euro.