Nach einer Sondersitzung der EU-Kommission zum Weißbuch "EU-Reform" trug Präsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch die Vorschläge des Kollegiums im Plenum des EU-Parlaments vor. "Es ist Zeit für ein vereintes Europa der 27 Mitgliedstaaten, Zeit, eine Vision zu entwickeln, Führung, Geschlossenheit und gemeinsame Lösungen aufzuzeigen", wird er im Dokument zitiert. "Der Brexit kann Europa nicht stoppen", sagte er den Abgeordneten, "wir müssen im Sinne der Gründerväter weitermachen und weitergehen".

Das bedeute: "Europa muss eine freie Gesellschaft bleiben, es baut auf Öffnung auf" – eine Spitze gegen US-Präsident Donald Trump. Sein Auftritt habe nicht das Ziel, ein fertiges Konzept vorzulegen, betonte der Kommissionschef. Vielmehr solle das Weißbuch die Grundlage zum Start eines breiten Diskussionsprozesses über die Zukunft der Gemeinschaft sein. Die Parlamente, Regierungen, Städte, Regionen und Initiativen seien aufgerufen, ihre Beiträge zu liefern. Die Kommission tue das nun rechtzeitig vor dem 25. März, dem 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Wie berichtet, wird an diesem Tag ein EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs in Rom stattfinden.

"Soziale Dimension"

Die Kommission will laut Juncker weitere Beiträge zur Entwicklung einer "sozialen Dimension für die Union" liefern, ebenso Vorschläge zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, der gemeinsamen EU-Verteidigung und zur Finanzpolitik.

Vor dem Plenum zeichnete er "fünf Szenarien", wie sich die EU mit 27 Mitgliedern nach dem Brexit (siehe Artikel unten) bis 2025 entwickeln könnte – je nachdem, wie sie auf Globalisierung und Digitalisierung reagiere.

Szenario 1 wäre die Fortsetzung schrittweiser Reformen so wie bisher, etwa im Energie- wie im Digitalbereich, ohne große Sprünge.

Szenario 2 wäre ein Schritt zurück, den er nicht empfehle. Man würde darauf setzen, dass die EU-27 sich ohne weitere Vertiefung auf den Binnenmarkt reduziert. Das sei aber nicht der Sinn der Gemeinschaft, diese müsse den Menschen dienen, nicht umgekehrt.

In Szenario 3 sieht die Kommission die Möglichkeit eines Kerneuropa: Jeder Staat könne sich an deutlich mehr politischer Integration beteiligen, müsse das aber nicht. Aber jedes EU-Land könne später jederzeit zur "Kerngruppe" dazustoßen.

In Szenario 4 würde die EU-Kompetenz auf wenige Bereiche beschnitten, mit klareren Abgrenzungen zu nationalen Regeln nach dem Motto: "Weniger ist mehr."

Szenario 5 bedeutete die Verwirklichung der "alten" Ziele von Rom: Integration, die weit über die Wirtschaft hinausgehen, also EU-weite Regelungen und entsprechend bei EU-Institutionen einklagbare Rechte für die Bürger. Für welchen Weg die Kommission plädiert, lässt das Weißbuch offen, wobei klar scheint, dass es zunächst in Richtung eines "Kerneuropa" gehten dürfte. Die volle "politische Union" sei nicht unbedingt realistisch, heißt es. Juncker zeigt dafür aber Sympathie. (Thomas Mayer aus Brüssel, 1.3.2017)