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Ingeborg Bachmann 1972 bei der Verleihung des Wildgans-Preises.

Foto: Barbara Pflaum / Imagno / Picturedesk.com

"Es stimmt hier nichts mehr", schrieb Ingeborg Bachmann 1966 an den Arzt Helmut Schulze, den sie mit "caro dottore" adressierte, und der ihr in den schweren Jahren nach ihrem katastrophalen Zusammenbruch sehr geholfen hatte. Längst war es nicht mehr nur der Schmerz über das Ende der Beziehung zu Max Frisch. "Was ich jahrelang für mein privates Unglück gehalten habe – ich halte es nicht mehr dafür." Bachmann haderte in diesen Jahren mit allem, vor allem aber auch mit einem Literaturbetrieb und schließlich sogar dem Schreiben selbst: "die Literatur (...) gibt es für mich nicht mehr."

Man muss es als einen Paukenschlag bezeichnen, dass die neue Ausgabe der Werke und Briefe von Ingeborg Bachmann – die vom Bundeskanzleramt geförderte Salzburger Bachmann-Ausgabe – mit einem Band beginnt, der diesen Überlebenskampf einer Frau und Schriftstellerin, in den Mittelpunkt rückt, und zwar durch die Veröffentlichung von Texten "von sehr privatem Charakter aus dem gesperrten Teil des Nachlasses", wie die Herausgeber, die Salzburger Germanisten Hans Höller und Irene Fussl, einräumen. Da steht der Verdacht eines gewissen Sensationalismus im Raum.

Und die FAZ hat mit einer äußerst kritischen Besprechung des Bandes "Male oscuro". Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit gleich eine Marke gesetzt, die auch an dem Pressegespräch nicht spurlos vorüberging, bei dem die Bachmann-Ausgabe am Dienstag im Hause Suhrkamp in Berlin offiziell vorgestellt wurde. Dass man eine neue Gesamtausgabe mit einem Band eröffnet, von dem erst zu diskutieren ist, ob er eigentlich in diese Ausgabe gehört, kam natürlich zur Sprache. Die Herausgeber untermauern ihre Entscheidung mit einem interessanten Begriff und sprechen von einer "Übergängigkeit" zwischen den hier enthaltenen Traumnotaten, Briefen und Textentwürfen zum literarischen Spätwerk von Bachmann. Das Material, das in Male oscuro zugänglich wird, gilt den Gesamtherausgebern Höller und Fussl also nicht nur als biografisch, sondern auch als literarisch relevant. Wenn man die Texte liest, kann man sich ihrer Position nicht leicht verschließen.

"Lieber mündlich"

Der eigentümliche Stellenwert der Dokumente wird an einer Stelle besonders offensichtlich: "Dazu Kommentar lieber mündlich", schreibt Bachmann an das Ende einer Notiz über einen Traum, in dem Max Frisch seine neue Lebensgefährtin Marianne Oellers geschlagen hat. Bachmann unterscheidet hier also zwischen verschiedenen Ebenen der Privatheit, bei der intimsten Aufzeichnung ist sie sich doch des Charakters als Text und damit eines möglichen Publikums bewusst.

Den Titel Male oscuro ("dunkles Übel", so heißt ein bekanntes italienisches Buch über eine Leidensgeschichte mit der Psychiatrie, das Bachmann las) entnahmen die Herausgeber einem der bemerkenswertesten Dokumente des Bands, einer Rede an die Ärzteschaft, die Bachmann wohl nicht wirklich zu halten beabsichtigte; die Rede macht aber heute noch Sinn, denn es ist von einzigartiger medizinkritischer Bedeutung, was sie hier über ihren Fall (eine komplizierte psychosomatische Konstellation) zu Papier bringt. Und es ist ein besonders schockierender Moment, in dem sie noch einmal auf ihren Zusammenbruch zurückkommt, auf die Hilflosigkeit, die von den Ärzten noch verstärkt wurde, und auf die Leichtfertigkeit, mit der man sie psychopharmakologisch abfertigte.

30 Bände oder mehr zu erwarten

Die Traumnotate sind als Texte in ihrer ganzen Flüchtigkeit, aber auch Präzision, ohne weiteres als experimentelle Literatur lesbar: "London (wahrscheinlich). Eine lange Fahrt mit der Untergrundbahn, ich (wahrscheinlich ich im Anfang, später geht der Traum ohne Ich weiter) muß zu Leuten, die tiefer wohnen, und auch statt einer Stunde noch eineinhalb Stunden tiefer."

Die Grenzen zwischen "ich" und dem Ich (dem persönlichen und dem literarischen Subjekt) machte Ingeborg Bachmann schon an diesen Stellen durchlässig – zugunsten eines literarischen Ichs. Für die "Übergängigkeit" zum geplanten zweiten Band Das Buch Goldmann (und damit zu den Todesarten) gibt es plausible Indizien. Die Ausgabe (aus verlagsrechtlichen Gründen eine Koproduktion von Suhrkamp und Piper) ist auf 30 (oder mehr) Bände angelegt, einen detaillierten Editionsplan gibt es aus guten Gründen noch nicht. Aber ein starker Anfang ist gesetzt. (Bert Rebhandl aus Berlin, 24.2.2017)