Bei "Le Sacre", das 1913 vor allem wegen Strawinskys Musik zum Skandal wurde, löst John Neumeier die ursprüngliche Handlung auf.

Foto: Ashley Taylor

Wien – Das war Rebecca Horners großer Triumph. Bei der Österreichpremiere von John Neumeiers Doppelabend Le Pavillon d'Armide / Le Sacre in der Staatsoper konnte die Ballerina im Le Sacre-Schlusssolo endlich zeigen, wozu sie fähig ist. Mit ihrer fantastischen Körperartikulation gab sie dem apokalyptischen Finale des 1972 entstandenen Stücks eine Wucht, die dem Publikum buchstäblich den Atem nahm.

Wie nebenbei hat Neumeier mit dieser nun 45 Jahre alten Arbeit gezeigt, dass das moderne Ballett damals wagemutiger war als heute. Dass es in Zeiten von Vietnamkrieg und Wettrüsten sogar im traditionsbelasteten Hochkulturtanz einen Aufbruch gab und den Willen, das "Establishment" vor seinem desaströsen Wirken zu warnen. In seiner Lesart von Vaslav Nijinskys Le Sacre du printemps, das 1913 vor allem wegen Strawinskys Musik zum Skandal geraten war, löste Neumeier die ursprüngliche Handlung auf.

Da liegt schon zu Beginn eine Leiche auf dem Boden, während die Gesellschaft, um deren Auflösung es in dem Stück geht, in aller Stille auf die Bühne stakst. Die Musik (Dirigent: Michael Boder) setzt erst ein, als der Tote entdeckt ist.Von diesem Moment an wird die Gemeinschaft straff ausgerichtet, dann auseinandergerissen, wieder zusammenpresst, verformt, verwirrt und verwirbelt. Die einzelnen Körper verdrehen sich, ihre Bewegungen werden eckig, zu Teilen einer unheilvollen Maschinerie und von Formationen der Verzweiflung bis hin zu einer igelhaften Skulptur, die Massenhysterie symbolisiert.

Passt in die Zeit

Bei der Frankfurter Uraufführung wütete Beatrice Cordua im finalen Solo nackt über die Bühne, was damals irritierender war, als es im internetpornografischen Heute noch sein könnte. Daher hat John Neumeier richtig entschieden, Horners Körper vor Voyeursaugen zu schützen und zu vertrauen, dass der Tanz transportiert, was in diesem Statement auf die Zuschauer einprasseln muss. In Le Sacre konnte die Wiener Compagnie – darunter Alice Firenze, Eno Peci und Ioanna Avraam – zeigen, dass sie spürt, wie gut diese Choreografie in unsere Zeit passt.

Wie einen langen Prolog hat John Neumeier ein Stück vor diese Arbeit gesetzt, das mit seiner Uraufführung 2009 zu seinem Spätwerk zählt: Le Pavillon d'Armide über Nijinsky als psychiatrischen Patienten im Sanatorium Bellevue im schweizerischen Kreuzlingen. Und auch da gab's eine tänzerische Lichtfigur – Mihail Sosnovschi in der Hauptrolle des Nijinsky.

Das Stück selbst zeugt allerdings von einem John Neumeier, dem jeder Altersfuror fehlt. Was hätte er mit den halluzinatorischen Ausritten des Vaslav Nijinsky alles anfangen können! Neumeiers Sammlung von Bildern, Autografen, Tagebüchern und Materialien über diese Künstlerpersönlichkeit ist berühmt. Doch der Choreograf scheint eingeschüchtert von seiner Expertise und Verehrung für Nijinsky. Le Pavillon d'Armide hat nur zu bieten, wofür das heutige Kulturestablishment den gebürtigen Amerikaner feiert: eine Palette meisterlichen Mittelmaßes, die der Ballettdirektor aus Hamburg virtuos einsetzt. Rebecca Horner wurde nach der Vorstellung zur Solotänzerin der Wiener Compagnie ernannt. Und am Wochenende hat Neumeier der dpa sein wahres Alter gestanden: Er ist nicht 1942 geboren, wie bisher angegeben, sondern 1939. Großer Applaus vom Wiener Publikum. (Helmut Ploebst, 20.2.2017)