Kolossale, eingestaubte weiße Vorhänge verdecken die Sicht hinaus aus "meinem" Zimmer. Dennoch schafft es die morgendliche Sonne mich zu wecken. Erst vor wenigen Stunden bin ich angekommen und fühle mich immer noch deutlich geschwächt, aber ich brenne darauf hinaus zu gehen, zu entdecken und Eindrücke von Erbil zu sammeln.

Ich sitze mit Sheyda und Reza, meinen zwei Gastgebern, am Frühstückstisch, die mir erklären, wo wir uns ungefähr befinden. Meine erste Frage gilt den Gegenden, die ich zu meiden habe oder worauf ich in der Stadt aufpassen muss. Beide lachen herzhaft. Reza erkennt an meinem verwunderten Blick dass ich diese Frage durchaus ernst gemeint habe. Solange ich kein Militär- oder eines der offiziellen Gebäude fotografiere, oder vorhabe, mit dem Bus die Stadt zu verlassen, bestehe keine Gefahr.

Von der "Sin City"-Siedlung in das wilde Zentrum von Erbil sind es fünf Kilometer. Reza nimmt mich auf der Fahrt zu seiner Arbeit mit in die Stadt. Auf den Autostraßen, die einer Rallye-Strecke gleichen, sieht man viele verlassene Baustellen und "Geisterbauten".

Verlassene Baustellen dominieren das Straßenbild.
Foto: Max Leyerer

Wissbegierig stelle ich Reza eine Menge Fragen. Sämtliche Bauprojekte seien vor dem Krieg gegen den Islamischen Staat begonnen worden. Seit der drohenden Gefahr in den umliegenden Städten und wegen der generell instabilen politischen Lage sind außergewöhnlich viele Menschen weggezogen. Ein Großteil waren Expats – ausländische Arbeitskräfte – die abgezogen wurden.

Wir fahren an einigen halbfertig gebauten und verlassen aussehenden Siedlungen vorbei. Diese Wohnkomplexe sind kleine Städte und verfügen über eigene Generatoren, einen Supermarkt und eine eigene bewachte Zufahrt. Die meisten Siedlungen sind aber nicht einmal zur Hälfte bezogen, sagt Reza.

Viele Menschen würden gerne in diese Siedlungen außerhalb der Stadt ziehen. Der Lebensstandard, alleine durch den eigenen Generator, ist hier weitaus bequemer. Im Zentrum der Stadt dagegen stehen einem nur wenige Stunden Strom pro Tag zur Verfügung. Die hohen Preise in den Siedlungen können sich viele jedoch nicht leisten.

Triste Szene aus der Siedlung "Sin City".
Foto: Max Leyerer

Das verleiht Erbil ein eher tristes Bild. Sobald wir dem Zentrum nahe kommen, verdichten sich Geschäfte, Banken, kleine Märkte und allerlei Gebäude mit gehissten, ausschließlich kurdischen Flaggen. Inoffiziell sind wir eben in Kurdistan und nur offiziell in der Republik Irak.

Bei Reisen, die mich an gefährliche Orte bringen, finde ich es immer besonders interessant zu sehen, wie Menschen auf mich, als Tourist, reagieren. In Somalia konnte ich die Straße nicht überqueren, ohne fünfmal begrüßt zu werden und andauernd wurde mir "America" hinterhergerufen. Dieses Mal weiß ich nicht genau, was mich erwartet. Ich habe mich auf alle Eventualitäten eingestellt.

Die ersten Stunden verbringe ich mit orientierungslosem spazieren. Ziellos wandere ich umher und lasse die Eindrücke auf mich hereinprasseln.

Unübersehbar im Zentrum thront die Zitadelle von Erbil auf einem circa 30 Meter hohen Hügel über der Stadt. Laut Unesco leben seit mehr als 7.000 Jahren Menschen hier – es soll sich um den am längsten, durchgängig bewohnten Ort der Welt handeln. Ich erklimme eine Rampe auf der Ostseite der Zitadelle und passiere das Haremstor, welches früher nur von Frauen durchschritten werden durfte.

Der Weg zur Zitadelle.
Foto: Max Leyerer

Seit einigen Jahren lebt niemand mehr in der Zitadelle. Nur eine eigene Organisation überwacht die andauernden Restaurierungsarbeiten. Zu damaligen Zeiten gab es hier mehrere Viertel, eingeteilt nach Status und Reichtum der Familien, sowie Moscheen, Schulen und ein Hammam.

In der Mitte der Zitadelle überragt eine gigantische Flagge die ganze Stadt. Es ist die kurdische Flagge und nicht die irakische. Von dem Haupttor hat man einen überragenden Ausblick über Erbil, die schneebedeckten Berge und den Hauptplatz, umringt von einem Bazar.

Kurdische Flagge in der Zitadelle.
Foto: Max Leyerer

Auf den ersten Blick erscheint das Zentrum von Erbil farblich eintönig. Der riesige Bazar ist von hohen hellbeigen Bögen umringt. Einzig die zahlreichen kleineren Teeshops, die den Hauptplatz von allen Seiten flankieren, verleihen dem Stadtbild ein wenig Farbe.

Die Bazars von Istanbul und Teheran haben mir mit zigtausend umherlaufenden Menschen und teilweise anstrengenden Verkäufern das Fürchten gelehrt. Mental gewappnet und mit Tee gestärkt stürze ich mich in den Bazar. Wie schon so oft habe ich mich nach mehrmaligem Abbiegen in den verwinkelten, engen Gassen verlaufen und irre ziellos herum. Ich versuche gar nicht erst einen Weg nach draußen zu finden, sondern lasse mich einfach entlang treiben und von Gerüchen und Farben leiten. Keine aggressiven Verkäufer, eine entspannte Atmosphäre und überraschend saubere Wege, machen meinen Abendspaziergang im Bazar zu einem echten Genuss.

Bazar-Szene.
Foto: Max Leyerer

Ein kleiner Junge läuft knapp an mir vorbei und stürmt regelrecht in einen kleinen Laden in einer Ecke. Neugierig gehe ich auch hinein und stehe dicht gedrängt neben einigen Männern und dem kleinen Jungen an einer Theke. Nach und nach bekommt jeder von uns ein warmes Pitabrot mit saftigen Fleisch wortlos in die Hand. Hinter uns bildet sich eine Schlange und immer mehr Menschen versuchen in den Laden hineinzukommen. Am Ende der Theke gibt es ein kleines Buffet mit Gemüse und Saucen zur Selbstentnahme.

Wir stehen zu viert in einer Reihe in ein Eck gedrückt und essen. Ein wenig perplex beobachte ich das Gewusel, bis das verführerisch riechende Essen wieder meine Aufmerksamkeit erlangt. Der Mann ganz rechts nimmt einen Stapel Servietten, verwendet zwei, reicht die Servietten zu seinem Nachbar weiter. Auch er nimmt Servietten und reicht sie mir weiter. Die letzten zwei Servietten gebe ich nach links weiter. Es ist so, als hätten wir schon immer eine kurze Essenspause miteinander verbracht und uns die Servietten geteilt.

Willkommen sein

Es sind die simplen Momente, die dir ein besonderes Gefühl geben und in diesem Fall ist es das Gefühl willkommen zu sein und dazuzugehören. Ich bin kein Fremder. Wir nicken uns zu und ich sehe die Männer in der Menschenmenge verschwinden. Beim Hinausgehen versuche ich genauso locker wie meine Nachbarn, einige Scheine über die Theke zu legen und dann verschwinde auch ich in die mittlerweile dunklen Gassen des Bazars.

Am nächsten Abend planen Sheyda und Reza einige Freunde einzuladen und gemeinsam zu essen. Es ist die einzig richtige Abendbeschäftigung die es gibt, da Bars oder Clubs in Erbil nicht existent sind. Alkohol ist auch weitgehend illegal und findet man lediglich in einigen abgeschlossenen Compounds.  

Wir rollen eine riesige Plastikfolie den Teppichboden entlang und teilen 15 Papierteller aus. Jeder der Freunde hat etwas zum Essen mitgebracht. Im Mittelpunkt stehen kurdische Dolma, ein orientalisches Gericht aus gerollten Weinblättern mit unterschiedlichen Füllungen. Weiters gibt es Kartoffelkuchen, Pitabrot, viele verschiedene Saucen, Gewürze und – zu meiner Überraschung – Alkohol. Sichtlich stolz zeigt Mohammed auf seinen Rucksack und zieht eine Flasche Rotwein, Bier und Sekt heraus. Einige "Mitbringsel" vom Schwarzmarkt. In kleinen Bechern wird der Rotwein auf alle aufgeteilt, damit alle einen Schluck zum Anstoßen haben.

Abdullah, mit 25 Jahren genauso alt wie ich, sitzt neben mir und wir beginnen zu reden. Während ich versuche mein Pitabrot ebenso souverän zu füllen wie er, erzählt Abdullah von seinem Job, mit dem er sein Studium und Leben finanziert.

Täglich fährt er ins benachbarte Mosul und arbeitet als Dolmetscher für Reporter und Fotografen. Jeden Tag gehen mehrere Autobomben in die Luft, Scharfschützen lauern auf den Dächern und er weiß eigentlich nie, ob er wieder heil nach Erbil zurückkommt. Ich frage ihn nach Alternativen, aber er hat keine. Jobs gibt es wenige und er ist froh darüber, dass er überhaupt Geld verdient, auch wenn es mit einem massiven Risiko verbunden ist.

IS-Hochburg Mosul, Nachbarstadt von Erbil.
Foto: Max Leyerer

Ich höre diesen Abend viele inspirierende und beeindruckende Geschichten, wie zum Beispiel die von Omar. Er ist Mitbegründer, des mittlerweile weltberühmten "Mr. Erbil Fashion Klubs". Der will ein positives Licht auf Kurdistan lenken und zeigen, dass es in dieser Region mehr als nur Leid, jahrzehntelange Kriege und tägliche Autobomben gibt. Eine großartige Sache, aus der ein richtiger Gentleman-Modetrend in Erbil entstand.

Eine vermeintlich sichere Variante

Eine Reise nach Erbil beziehungsweise Kurdistan ist im Grunde genommen die sicherste Variante, in diese Region zu reisen und um ein Stück Irak kennen zu lernen, ohne sein Leben ernsthaft aufs Spiel zu setzen. Ein gewisses Restrisiko ist dennoch gegeben, so ist auch das nächste, für Österreicher, zuständige Konsulat erst in Amman, Jordanien.

Gastfreundschaft wird auf keinem Fleck der Erde so groß geschrieben wie im Nahen Osten. Einem Gast gegenüber freundlich, höflich und zuvorkommend zu sein ist hier tief in der DNA verankert. Ich bin Sheyda und Reza unendlich dankbar, dass sie mich in ihr Haus eingeladen haben und ich bei ihnen wohnen durfte. Denn beim Reisen geht es schließlich auch um die Menschen die man trifft, von denen man lernt und den Erfahrungen, die den eigenen Horizont erweitern. (Max Leyerer, 6.3.2017)

Ein Album mit mehr Fotos gibt es hier auf Facebook.

Links