Lehmann: "Ich glaube, dass wir noch Luft nach oben haben. Wir möchten den Österreichern näherkommen."

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Bei der Heimweltmeisterschaft lastet auf den Schweizern besonders großer Druck. Medaillenvorgabe gab es aber keine.

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STANDARD: Österreich und die Schweiz halten bei jeweils einer Medaille – wer wird am Ende mehr gewonnen haben?

Lehmann: Joker!

STANDARD: Gab es eine Medaillenvorgabe für die Schweiz?

Lehmann: Wir machen keine Medaillenvorgabe. Wir sprechen von Potenzial in den Disziplinen. Aufgrund der Resultate und aufgrund der Form der Athleten, glaube ich, dürfen bzw. durften wir in neun von elf Disziplinen realistische Hoffnungen auf Medaillen haben.

STANDARD: Inwiefern lastet auf Ihnen persönlich Druck, dass die Schweiz bei der Heim-WM gut abschneidet?

Lehmann: Auf mir persönlich keiner – auf den Athleten selbstverständlich. Sie haben die Chance, sich in die Geschichtsbücher einzutragen. Die Kameras sind auf sie gerichtet, weniger auf den Verband, weniger auf mich.

STANDARD: Trotzdem, wenn die Schweiz sehr wenig gewinnen würde, würden Sie wahrscheinlich auch infrage gestellt werden?

Lehmann: Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, dann den Präsidenten infrage zu stellen. Oder ob nicht eher die, die auf der Piste sind, die die Jungs oder die Mädels trainieren, dann in der Verantwortung stehen. Ich war bei keinem einzigen Training von Lara Gut zugegen oder habe ihr einen Tipp gegeben. Wäre es dann akkurat gewesen, wenn sie keine Medaille gemacht hätte, dass ich infrage gestellt würde?

STANDARD: Aber der Verband sorgt natürlich für die Strukturen ...

Lehmann: ... und die stimmen. Wir sind verantwortlich für die Strukturen. Diese garantieren aber keine Medaillen.

STANDARD: Kürzlich war zu lesen, Sie würden bei einigen jungen Athleten den Biss vermissen. Können Sie das erläutern?

Lehmann: Ich habe nicht gesagt: keinen Biss. Aber weil ich es auch so gelesen habe, habe ich versucht, es verständlich zu erklären. Ich glaube, dass wir noch Luft nach oben haben. Das wäre, wie wenn meine Tochter in Mathematik immer eine Fünf nach Hause bringen würde, was grundsätzlich okay ist. In der Schweiz ist die Sechs die beste Schulnote. Ich weiß aber, dass sie das Potenzial für eine Sechs hat. Dann muss man als Vater oder Mutter fragen: 'Warum orientierst du dich nicht an einer Sechs?' Wir haben extrem viele talentierte Leute. Ich glaube aber, dass wir noch Luft nach oben haben. Wir möchten den Österreichern näherkommen.

STANDARD: Gibt es also Dinge, die Sie sich von Österreich abschauen können?

Lehmann: Ja, selbstverständlich. Peter Schröcksnadel und ich – wir kennen einander schon lange. Sie müssen ihn fragen, was er von mir hält. Ich schätze ihn extrem. Für mich ist er definitiv der Beste seines Fachs.

STANDARD: Der größte Druck lastete hier wohl auf Lara Gut, die im Super-G Bronze gewonnen hat. Ist sie dem Druck also gewachsen?

Lehmann: Ich glaube, ja. Durch den Sieg im Gesamtweltcup ist Lara vergangenes Jahr in eine andere Liga aufgestiegen. Es ist immer eine große Herausforderung, dass man durch Medien- und Sponsorenanfragen nicht den Fokus verliert. Sie hat eindrücklich bewiesen, dass sie diesen Fokus gehalten hat.

STANDARD: Es gab in der Vergangenheit immer wieder Konflikte mit Lara Gut. Läuft heute alles reibungslos?

Lehmann: In meiner Wahrnehmung ja, aber ich war nicht immer dabei. Lara wusste immer sehr genau, was sie wollte, um Erfolg zu haben. Sie hat sich entschieden, einen eigenen Weg zu gehen. Das war neu für den Verband. Dass es dann Diskussionen gibt, liegt eigentlich in der Natur der Sache. Ich glaube aber, dass sie, vor allem dank Cheftrainer Hans Flatscher, ihren Weg sehr gut gefunden hat. Ich denke, es ist gelungen, sie und ihr Team optimal in unsere Strukturen zu integrieren.

STANDARD: Auch andere Topstars schwören auf ein Privatteam. Was halten Sie grundsätzlich davon?

Lehmann: Ich glaube, wir als großer Verband müssen Strukturen haben und schaffen, um eine Breite an der Basis zu erhalten. Wir müssen aber auch die Individualität an der Spitze zulassen. Ich glaube, diesen Spagat müssen wir in Zukunft noch mehr leben.

STANDARD: Ihnen wurde zumindest in den Anfangsjahren nicht unbedingt ein zurückhaltender Führungsstil nachgesagt. Wie würden Sie Ihren Führungsstil selbst beschreiben?

Lehmann: Als ich zum Skiverband gekommen bin, war er finanziell und strukturell etwas im Argen. Mit einem kooperativen Führungsstil bringt man einen Verband nicht auf Vordermann. Deswegen mussten wir vor allem zu Beginn einiges ändern. Leute mussten über die Klinge springen. Auch Leute, die ich persönlich geschätzt habe, die aber in ihrer Rolle nicht zum Tragen kamen. Und da schafft man sich keine Freunde. Aber die Erwartungshaltung in der Schweiz und von den Leuten, die mich in die Position gebracht haben, war ganz klar, dass ich etwas verändere.

STANDARD: Das heißt, es gibt eher keine flachen Hierarchien bei Swiss-Ski?

Lehmann: Heute sind sie viel flacher als früher. Wenn es nicht läuft, braucht es jemanden, der vorangeht. Ich glaube, in den vergangenen Jahren haben wir uns etabliert. Der Verband war Mitte der Nullerjahre kurz vor dem Bankrott, heute haben wir solides Eigenkapital und noch Rückstellungen. Der Druck war zu Beginn groß, dass wir das hinkriegen. Man musste also sehr schnell präzise und dezidiert agieren. Das haben wir versucht. Wir haben nicht alles richtig gemacht, ich habe nicht alles richtig gemacht, aber heute steht der Verband solide da.

STANDARD: Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren viele Topstars in den unterschiedlichsten Sportarten hervorgebracht. Ist der Skisport nicht mehr so wichtig?

Lehmann: Ich glaube, dass es schwieriger geworden ist – nicht weil wir schlechter geworden sind, sondern weil die anderen Sportarten aufgeholt haben. Zwei Tennis-Weltstars wie Wawrinka und Federer etwa hatten wir vor 20 Jahren nicht. Auch im Fußball oder im Eishockey wurde sehr viel richtig gemacht. Die anderen Sportarten sind heute auf Augenhöhe, der Kuchen ist nicht größer geworden, entsprechend muss man sich den Kuchen teilen. (Birgit Riezinger aus St. Moritz, 9.2.2017)