Jorge Sánchez-Chiong – demnächst im Radio und in Graz.

Foto: Newald

Wien – Äußerlich ähnelt der Mann an seinem Instrument, den Turntables, im Porgy & Bess einem Grübler mit recht ausgeprägtem Desinteresse an der Außenwelt. Akustisch vermittelt sich ein gänzlich anderer Eindruck: Was Jorge Sánchez-Chiong da mit Kollegen inszenierte, mutete wie ein kommunikativ gewachsenes, subtil erdachtes Energiefeld an.

Dies hatte auch mit Sánchez-Chiongs Vielseitigkeit zu tun. Der Mann ist Komponist, allerdings legt er seine Rolle individuell an, etwa gerne abseits vom einsamen Notenschreiben am Grübeltisch. "Es ist notwendig, auch längst selbstverständlich. Auch für Ensembles ist es nicht mehr nur Science-Fiction, mit Elektronik, Improvisation und auch mit Neuen Medien zu arbeiten."

Starre Gerüste aufbrechen

Sánchez-Chiong unterrichtet auch am Traditionsort der Moderne, in Darmstadt: "Besonders durch Komponistinnen und Komponisten, die mir bei Kursen über ihre Ausbildung erzählen, erfahre ich, wie veraltet Akademien und Konservatorien weltweit sind, wie fremd sie dem aktuellen kulturellen Geschehen bleiben. Meine Rolle ist dabei, starre Gerüste aufzubrechen – mit einem Know-how, das sich aus Bühnenerfahrung, Dynamiken des Zusammenarbeitens und Wissenstransfers in heterogenen Gruppen speist."

Vieles im Betrieb sei durch die "Dualität Komponist/Interpret, Komposition/Improvisation definiert. Diese Einteilung schränkt das Potenzial stark ein. Ich bevorzuge es, über ,Musikmachen' zu sprechen und Komposition und Improvisation nicht als Gegensätze zu betrachten."

Impuls-Festival in Graz

Sánchez-Chiong wird dies nun beim Impuls-Festival in Graz tun; auch widmet ihm Ö1 drei "Sessions". Zudem sind auch Auftragswerke für Luzern und Schwerpunkte (in Los Angeles porträtiert ihn das Festival M.A.R.S.) mit Orchesterwerken geplant. "Ich werde dort aber auch meine Turntable-Arbeit, Experimentelles, Installatives bis hin zur Party präsentieren."

Daneben entstehen Performancemusiken, ein Orchesterstück für das RSO-Wien und "eine Art Videooper", so Sánchez-Chiong, der mit 18 nach Wien kam. "Daniel Bernard war mein Klavier- und Theorielehrer in Caracas. Er kam aus Wien und hatte mich mit dem Gedanken konfrontiert, in Wien zu lernen: ob Klassik, Jazz, oder Zeitgenössisches, ob Komponist oder Dirigent, war nicht klar." Bezüglich seiner stilistischen Vielseitigkeit will er keinesfalls von musikalischer "Touristik" sprechen: "Wenn ich etwas aus der Noise- und Clubmusik oder anderen Genres in meine Arbeit einbeziehe, dann, weil ich in diesen Szenen tätig bin und mich damit spezifisch beschäftige."

Proben, proben, proben

Auch aufgewachsen ist er "mit sehr vielen Einflüssen. Einerseits war da meine Familie – kubanische Musikproduzenten, die in Caracas lateinamerikanische Musik und Pop hervorbrachten." Dann der familiäre Plattenladen: Er weckte Neugier für unterschiedlichste Musikarten. "Auf der anderen Seite habe ich eine klassische Ausbildung samt den typischen venezolanischen Orchestermusiktätigkeiten: proben, proben und nochmals proben. Ich war dabei sehr glücklich, dass mein Lehrer und Orchesterleiter ein Querdenker war."

Wie sieht er als Universalist die Frage nach dem musikalisch Neuen? "Nur im Sinne der rührenden Fortschrittsgedanken des 20. Jahrhunderts ist das ,Neue' heute sicher irrelevant geworden. Das Bild vom belehrenden Künstler, der mit der Vergangenheit völlig bricht und Zukunftsvisionen in stiller Kammer für eine noch nicht dafür vorbereitete Welt schöpft: Dieses Bild gehört der Vergangenheit an. Und auch dort – im Akademischen, in der Neuen Musik, im Jazz und anderen Sparten, die im 20. Jahrhundert für Innovation ausschlaggebend waren, sollte man heute nicht ausschließlich suchen, wenn man wirklich fündig werden will."

Impulse aus Subkulturen

Der Wunsch nach Kommunikation und Kooperation habe "das romantische Bild vom verkannten, isolierten Einzelgenie als deplatziert entlarvt. Impulse aus immer neuen Subkulturen und nicht-akademischen Kreisen sorgen für Innovation – mit neuen Betrachtungsweisen, Klangkulturen und Konzeptverschiebungen."

Wichtig auch Wissenschaft und Technologie: "Täglich werden unzählige musikalische Anwendungen programmiert, frei zur Verfügung gestellt. Neue Generationen nützen das selbstverständlich, um sich auszudrücken. Allein die Verfügbarkeit dieser Ressourcen hilft dem Neuen. Das Neue ist unvermeidlich, eine Art Aggregatzustand der Kreativität. Und: Wir haben diesen Pakt mit dem Teufel geschlossen, wir suchen nach der Musik, die noch nicht existiert, unaufhörlich. Das ist unser Job." (Ljubisa Tosic, 9.2.2017)