Wien – Bevor Karin Simonitsch von ihrem Engagement für gehörlose Menschen berichtet, erzählt sie lieber von dem Kräuterbeet vor dem Eingang oder vom bunten Baustellennetz, das die Fassade umspannt. Die 53-jährige Pharmazeutin und Betreiberin der Marien-Apotheke im sechsten Bezirk in Wien lässt sich nämlich allerlei einfallen, um "die Apotheke weiter hinauszutragen, als unsere Eingangstür ist". Es sei ihre Aufgabe, "aktiv in der Nachbarschaft zu sein, zu kommunizieren, Initiativen zu starten" – und das mache sie gern auch "unkonventionell und spielerisch" , sagt Simonitsch, die das Familiengeschäft in den 1990er-Jahren von ihrer Mutter übernommen hatte.

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Im Frühling sollen heuer etwa wieder Minze, Salbei und Oregano aus den Töpfen rund um die Baumscheibe an der Ecke Schmalzhofgasse, Otto-Bauer-Gasse wachsen. Für die Sanierungsarbeiten an dem Zinshaus, dessen Eigentümerin sie ist, ließ Simonitsch das Baustellennetz von einem Grafikdesigner gestalten. Später soll dieses von Migrantinnen des Integrationsprojekts "Nachbarinnen" zu Tragetaschen verarbeitet werden. "Wir Apotheker haben alle ein Helfersyndrom", meint die Pharmazeutin.

Aus dem Baustellennetz sollen später Tragetaschen werden.
Sarah Brugner

Ihres war 2008 der Startschuss für das Gehörlosenengagement: Als der gehörlose Sohn eines befreundeten Paares Interesse an Pharmazie zeigte, bildete sie ihn kurzerhand zum pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenten aus. Heute sind drei ihrer insgesamt 45 Mitarbeiter gehörlos – "darunter der einzige gehörlose Apotheker Europas". Alle Mitarbeiter besuchen Kurse in Gebärdensprache.

So habe man "einige Präzedenzfälle geschaffen." Weil die gehörlosen Angestellten auch hörende Kunden betreuen, habe man etwa überlegen müssen, wie das Übersetzen funktionieren kann: "Wo stellt sich der Dolmetscher hin? Wer schaut im Verkaufsgespräch wen an?"

Neben Arzneimitteln werden allerlei "spielerische" Produkte angeboten.
Sarah Brugner

Es gehe ihr dabei um Barrierefreiheit. Dafür reiche es nicht, den Eingang rollstuhlfahrerfreundlich umzubauen. Man müsse Inhalte in der richtigen Form zur Verfügung stellen. Es sei für Gehörlose schwierig, sich im "Dschungel des Gesundheitssystems" zurechtzufinden. "Um die 10.000 gehörlosen Menschen in Österreich adäquat zu betreuen, wären mindestens 40 gehörlose Ärzte nötig. Doch wo gibt es die?", fragt Simonitsch. Als nächstes Projekt denkt sie deshalb einen Gesundheitswegweiser an – etwa in Form von Beratung über eine Handyapp.

Sarah Brugner

Soziale Funktion

Sie fühle sich "verpflichtet, eine soziale Funktion im Grätzel wahrzunehmen". Für manche finde in der Offizin der letzte soziale Kontakt statt; etwa für alte Menschen, deren Angehörige bereits verstorben sind. "Es ist keine Anmeldung nötig, es ist anonym – und man muss nichts kaufen, man kann sich informieren, reden." Immer wieder wird sie vor dem Geschäft von Passanten gegrüßt. "Man kennt sich, der Schmäh rennt", sagt Simonitsch. Man müsse nicht "gebückt und schmerzgeplagt sein", man könne auch aus Freude in die Apotheke gehen.

Ein weiteres Projekt, das im Februar startet, liegt ihr am Herzen: der Klub für gehörlose Pensionistinnen im Haus Mariahilf. "Es ist fast biedermeierlich, dass jeder sich um seine eigene kleine Welt kümmert", meint Simonitsch. "Doch nur hier kann ich tatsächlich etwas verändern." (Text: Christa Minkin, Video: Sarah Brugner, 7.2.2017)