STANDARD: Sie kommen in Ihrem jüngsten Buch zum Befund: Die Bonzen werden geschont, den Kleinen wird bei einem Weinfest Sekt über den Kopf geschüttet, den Hartz-IV-Beziehern wird nahegelegt, wegen 1,87 Euro die Wohnung zu wechseln. Wie würde sich eine demokratische Gesellschaft dagegen wehren?
Roth: Durch Zivilcourage. Durch das, was wir früher unter "Gemeinwesen" verstanden haben – das Prinzip der Solidarität in einer Gesellschaft.
STANDARD: Das Gemeinwesen zu organisieren ist heute aber vor allem eine Angelegenheit, die dem Staat überantwortet wird.
Roth: Das Problem ist, dass es eine kalte Bürokratie gibt, eine unmenschliche Bürokratie, die die humane Verantwortungslosigkeit permanent praktiziert. Und die Ohnmacht der Bürger steigt, wenn sie dieser unmenschlichen Bürokratie gegenüberstehen.
STANDARD: Und ohnmächtige Bürger wenden sich von der Demokratie als Organisationsform des staatlichen Handelns ab?
Roth: Zumindest ein Indiz dafür sehen wir ja im Anwachsen von autoritärem Nationalismus, von Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus. Dahinter ist genau diese Erfahrung, die Teile der Bürger mit dem Staat gemacht haben, die ja gleichzeitig sehen, dass es den Vermögenden immer besser geht und auf der anderen Seite die Zukunftschancen der jungen Generation einfach nicht mehr vorhanden sind. Früher konnte man in die Zukunft planen, das ist heute für die junge Generation im Prinzip überhaupt nicht mehr möglich. Auch das ist ein Teil dieser Abwehr der Demokratie als solcher.
STANDARD: Aber wir haben heute wesentlich größere Möglichkeiten für junge Menschen, durch Bildung aufzusteigen und etwa an die Uni zu gehen. Wir haben doch viel mehr Leute an den Universitäten?
Roth: Sie haben Leute an den Universitäten, die dann aber, wenn sie gut ausgebildet sind, keine Arbeit mehr finden, zumindest keine langfristige. Zeitverträge, Praktikantenstellen – es sind prekäre Arbeitsverhältnisse. Die hat es zu unserer Zeit in diesem Umfang nicht gegeben. Prekär heißt halt: Man kann nichts planen. Man kann hoffen, dass man dann wieder eine Anstellung bekommt, aber Sicherheiten, dass man eine Familie gründen könnte, sind immer geringer, um es zurückhaltend auszudrücken.
STANDARD: Früher hat es noch geheißen, dass die, die es besser haben, quasi Vorreiter sind. Betriebliche Sozialleistungen in einzelnen, oft staatsnahen Betrieben waren ein Vorbild – das sollte es irgendwann für alle geben. Da konnte man als Gewerkschafter verlangen: Das will ich in meinem Betrieb auch haben. Das ist in den 1980er-Jahren gekippt, da hat es plötzlich geheißen: Denen muss man ihre Privilegien wegnehmen. Warum ist das passiert?
Roth: Es gab in den 1970er- und 1980er-Jahren die Teilhabe der Belegschaft. Die vermindert logischerweise die Profitrate. Das ist ein zentrales Motiv für das, was Sie eben geschildert haben. Aber nicht das einzige. Erschwerend kam hinzu, dass es die UdSSR nicht mehr als Gegenmodell gab. Immerhin war sie zumindest ein Gegenpol zu dem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Das war ab 1991 nicht mehr vorhanden – daraufhin hat es den globalen Sieg des neoliberalen Systems gegeben. Das hat sich auch innerhalb der Sozialdemokratie durchgesetzt. Das Schröder-Blair-Papier von 1999 ist ja ein Ausdruck genau für diese Entwicklung.
STANDARD: In den 1990er-Jahren ist ja nicht nur die Sowjetunion verschwunden. Gleichzeitig ist Europa zusammengewachsen, die EU hat Versuche gemacht, das Europäische Parlament zu stärken. Die Vision einer gesamteuropäischen Demokratie, die über den nationalen Demokratien und nationalen Regierungen steht, wäre doch den Versuch wert gewesen?
Roth: Das ist es bis heute. Ich war in jungen Jahren Vorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten. Das war Ende der 1970er-Jahre. Ich halte nach wie vor die Idee eines sozialen und demokratischen Europa für zentral für eine weitere Entwicklung. Es gibt zwar eine hervorragende europäische Sozialcharta, die 1993 verabschiedet wurde – nur an die hält sich natürlich niemand. Sondern es setzen sich diejenigen Kräfte durch, die eben Repräsentanten des neoliberalen politischen Systems sind. Dazu gehören natürlich alle konservativen wie rechtspopulistischen Parteien, die es ja in den 1990er-Jahren nicht in dem Umfang wie heute gegeben hat.
STANDARD: In Österreich schon.
Roth: Ja, Sie haben Ihre lustige FPÖ.
STANDARD: Wir hatten ab 1986 unseren Jörg Haider.
Roth: Ja, aber Sie hatten klare Gegenpole, die es heute in diesem Umfang nicht mehr gibt. Wenn überlegt wird, mit der FPÖ zu koalieren, dann ist das nicht nur eine politische Todsünde, sondern dann ist das natürlich auch eine absolute Niederlage der demokratischen Kultur.
STANDARD: Die ÖVP hat einmal mit der FPÖ koaliert, das hat die FPÖ zerrissen. Sobald man diese Parteien in die Regierung nimmt, zeigen sie ja ohnehin, dass sie nichts können.
Roth: Ja, aber sie werden erst einmal ihre Apologeten in die entsprechenden staatlichen Strukturen einschleusen, das ist ja damals auch passiert, mit verheerenden Folgen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der damaligen schwarz-blauen Koalition und der heutigen Situation. Diesen latenten Rassismus, diesen Hass und die Ressentiments gegen das Fremde als solches hat es damals nicht gegeben. Das ist heute ein europäischer Brandbeschleuniger. Was damals vielleicht national war, ist inzwischen europaweit zu beobachten. Das ist ein Drama. Als Schwarz-Blau kam, hätte niemand gedacht, dass einmal drohen könnte, dass ein Freiheitlicher Bundespräsident wird – oder, was immer noch droht, Kanzler.
STANDARD: Aber wenn es 2000 nicht zu dieser schwarz-blauen Koalition gekommen wäre, hätte es Neuwahlen gegeben – da wäre die FPÖ wohl die stärkste Partei geworden. Denn alle Parteien lagen damals zwischen 22 und 27 Prozent.
Roth: Aber dieser Rechtspopulismus war national begrenzt. Heute verbindet er sich überall mit Rechtsradikalen- und Neonaziorganisationen. Unter Haider waren es die Burschenschaften. Klar gab es da immer schon die Verbindungen zu Neonazis, aber heute ist das nicht mehr national beschränkt, sondern es ist ein europaweites Phänomen geworden. Mit einer ganz anderen Durchsetzungskraft. Wir sehen ja die Ergebnisse dieses Hasses, dass jeden Tag in Deutschland Flüchtlinge angegriffen werden, Flüchtlingsheime angezündet werden, Migranten und Muslime diffamiert werden. Der Hass ist inzwischen Teil der politischen Kultur geworden in diesen Kreisen.
STANDARD: In den 1970er-Jahren war die Mitte attraktiver als heute, damals wurden Positionen, die ganz links oder ganz rechts waren, breitest abgelehnt. Die Kraft der Mitte ist völlig verlorengegangen.
Roth: Es gab immer das Nationalkonservative, das ist ja gut und schön, aber es gab immer eine Schamschranke, und die war immer, dass man humanitäre Prinzipien nicht über Bord wirft. Und das ist heute selbstverständlich geworden.
STANDARD: Wir haben ja eine Reihe von Flüchtlingswellen aufgenommen in den letzten Jahrzehnten – Ungarn, Tschechen, Bosnier. Warum wird es jetzt so viel schwerer?
Roth: Die Masse macht viel aus. Die Bilder der Masse wohlweislich. Wenn Hunderttausende hierherkommen nach Europa, nach Österreich oder nach Deutschland. Ich war ja in Flüchtlingslagern, ich habe mit Müttern gesprochen, deren Töchter geschändet worden waren, deren Kindern der Kopf abgeschlagen worden war und denen es gelungen war zu flüchten. Die aber aus einer ganz anderen Kultur kommen, logischerweise, da habe ich die Clanstrukturen, die religiösen Strukturen. Eigentlich erwartet man dann hier in Europa, dass ein gewisser Grad an Verständnis für diese Menschen gezeigt wird. Und das ist bis heute nicht der Fall. Es gibt eine unheimlich gute Zivilgesellschaft. Glücklicherweise. Ohne diese Zivilgesellschaft wäre ja alles zusammengebrochen, sowohl in Österreich wie auch in Deutschland.
STANDARD: Allerdings ist, wie Sie ja ausführen, die Integration von Menschen aus anderen gesellschaftlichen Strukturen schwierig.
Roth: Ja, aber vor allem werden sie politisch funktionalisiert. Diese menschlichen Tragödien sind ein Instrument, um eine andere Politik durchzusetzen – eine nationalistische, eine autoritäre, nationalistische Politik. Und alle orientieren sich an Viktor Orbán als großem Vorbild. Da ist diese Hinwendung zum Führerprinzip, zum Autoritären. Und es zeigt sich natürlich, dass alle diese rechtspopulistischen Parteien ein doch schon inzestuöses Verhältnis zu Putin haben – der nun nicht unbedingt ein Repräsentant einer lebendigen Demokratie ist.
STANDARD: Wir sehen oft mit Erstaunen die vielen Reisen verschiedener Exponenten der Freiheitlichen nach Russland ...
Roth: Was man leicht übersieht: Da spielt die orthodoxe Kirche eine ganz große Rolle, sowohl die russisch-orthodoxe als auch die serbisch-orthodoxe. Man sagt immer: "Hier die guten Christen, dort die bösen Muslime." Die gibt es ja auch, das ist ja unbestritten. Aber es liegt gerade 20 Jahre zurück, dass 7000 Muslime in Srebrenica von Serbisch-Orthodoxen ermordet wurden. Da haben nicht die Muslime die christlichen Serben ermordet, sondern es war umgekehrt. Das hat man einfach vergessen. Damals hat man weggeschaut, und heute schaut man wieder weg, wenn die Menschen, die vor Terror flüchten, hierher nach Europa kommen. Dieses fehlende Prinzip der Humanität das ist ein zentrales Moment. Papst Franziskus, immerhin der Oberhirte der katholischen Kirche, mahnt, klagt an, aber es wird nicht gehört. Mahnende Stimmen, die dann vielleicht auch einen ethischen Anspruch haben, verhallen einfach. Ich hätte mir schon vorgestellt, dass jemand, der einmal in der Woche in die Kirche geht, versucht, das auch in die politische Praxis umzusetzen.
STANDARD: Ein leicht resignativer Ton ist bei Ihnen herauszuhören?
Roth: Ja, ich würde ja gerne etwas Positives schreiben. Ich hätte gerne ein Buch über die tolle Zivilgesellschaft, die gerade sehr zersplittert ist, geschrieben, über die vielen positiven Bemühungen, die es gibt für eine demokratische Kultur, für Transparenz. Wir haben ja die NGOs, die gibt's ja überall. Es gibt diese Lobby-Controller auf deutscher Ebene, es gibt sie auf europäischer Ebene. Es gibt Attac. Es gibt Amnesty International, wie sie alle heißen. Nur: Das sind Appelle, das sind Aufforderungen. Die Realpolitik aber ist nur noch amoralisch geworden. (Conrad Seidl, 3.2.2017)