Er schreibe mittlerweile mehr aus dem Bauch heraus, sagt Paul Auster über seinen neuen Roman "4321". Sein Protagonist Archie Ferguson teilt mit seinem Autor nicht nur das Geburtsjahr, sondern auch die Faszination für das geschriebene Wort.

Foto: Matthias Cremer

Wien – Am Ende eines Lebens hat jeder Mensch seine eigene Erzählung verwirklicht. Anders zu Beginn, da stehen alle Ausgänge offen, und bei jeder Entscheidung schließt sich eine Tür, während sich zugleich andere wieder öffnen. Der US-Schriftsteller Paul Auster hat sich in seinen Romanen schon oft mit Fragen nach Kontingenz und Schicksalshaftigkeit befasst. Und es waren dann stets die Möglichkeiten des Erzählens, die ihm dazu verhalfen, der vermeintlich starren Kausalität des realen Lebens ins Getriebe zu blicken und einiges darin zu manipulieren.

Mit seinem neuen Roman 4321, der am Dienstag im Original und in diversen Übersetzungen erscheint, schließt Auster ausdrücklich wie selten davor an dieses Prinzip an. Mit voluminösen 1260 Seiten vermittelt das Buch schon physisch, dass es diesmal um Grundlegendes geht. Opulenz ist in diesem Fall aber auch abhängig von der erzählerischen Form, schließlich folgt der Autor seiner Figur gleich durch vier alternative Lebensszenarien. Man kennt das Prinzip aus der Science-Fiction: Paralleluniversen, in denen bis auf wenige Unterschiede zunächst alles recht ähnlich ist.

Diese Figur heißt Archie Ferguson, sie kommt – wie Auster selbst – 1947 in Newark, New Jersey, als Sohn eines jüdischen Elternpaares zur Welt. Der Name Ferguson, erfahren wir, verdankt sich einer anekdotischen Begebenheit, einem Gag, mit dem der Roman beginnt. Großvater Isaac antwortet dem Grenzbeamten auf Ellis Island nämlich auf die Frage, wie er heißt: "Ich hob fargessen" – woraus Ichabod Ferguson wird. Das führt, jenseits der Pointe, auch direkt zu Austers Identitätspolitik: Ein neuer Name im damals noch als "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" gepriesenen Amerika – das ist die Chance eines Lebens.

Feuer und Tod

Dem Großvater gelingt noch wenig – er wird bald erschossen -, doch Archie geht viermal an den Start. Die erste Weiche kommt in Form äußerer Gewalt. Sie erschüttert den sozialen Status der Familie und formt damit den weiteren Lebenslauf des Jungen mit. Das Warenhaus des Vaters brennt nieder, einmal kassiert dieser die Versicherungssumme, ein anderes Mal kommt er darin um. Ein weiteres Mal wird es bloß Schauplatz eines Raubs, während der Vater in der vierten Variation seine unverlässlichen Brüder schon früh aus dem Geschäft entfernt und damit das Ereignis gänzlich verhindert.

Überraschend an 4321 ist jedoch bald weniger dieses Spiel aus Wiederholung und Differenz, für das man Auster seit der New-York-Trilogie schätzt, sondern die Geduld und der Eifer, mit denen er die Parallelstränge und deren zeithistorischen Einfärbungen ausbreitet, ja mitunter auch ermüdend detailreich ausmalt. Das Buch wirkt für seine erzählerische Prämisse erstaunlich unkonstruiert, die aufgeräumten Sätze früherer Bücher sind Satzgirlanden gewichen, die wie Netze ineinandergreifen und die atemlosen Reflexionen des Protagonisten nie zur Ruhe kommen lassen.

Das Schreiben sei mittlerweile "ganz Körper, ganz Instinkt", erzählt der bald 70-Jährige gerade in Interviews. In den gelungensten Passagen übersetzt sich dieser habituelle Zugang als Ausdruck der Euphorie der Jugend, von Archies Entdeckungslust, sei sie auf Literatur, Kino oder sexuelle Erfahrungen gerichtet; in den schwächeren wird daraus ein enzyklopädisches Aufzählen von Begegnungen und Leidenschaften, von Film- und Literaturkanons, die den Aufwachsenden mehr verpacken als wirklich ergründen.

4321 ist als Coming-of-Age-Roman – er reicht bis ins Jahr 1970 – freilich auch abhängig von den äußeren Entwicklungen, die Archie erst zum gesellschaftlichen Subjekt reifen lassen. Es sind die bewegten 1960er-Jahre – John F. Kennedys Aufstieg und Ermordung, das Aufkommen der Minderheitenbewegung, die Rassenunruhen in Newark, der Riss zwischen den Generationen, der schließlich in die Studentenunruhen in der Columbia University mündet -, die jede Ausgabe des Helden auf unterschiedliche Weise prägen; nicht auf dieselbe Art schon deshalb, weil es nicht alle lebend bis ans Ende schaffen.

Eine weitere Konstante bleibt Amy Schneiderman, Archies erste Liebe, die nicht in jeder Version seines Lebens so lang an seiner Seite schläft, wie er es sich erhoffen würde. Das aufgeweckte, so sinnliche wie intellektuelle Mädchen ist politisch viel direkter im Geschehen der Zeit verwurzelt als der Held selbst. Sie nimmt etwa aktiv am Aufstand der Studenten teil, wohingegen er ein abwägender Beobachter bleibt, der den ideologischen Verhärtungen mit wachsender Skepsis begegnet.

Wege zum Schriftstellertum

Auster hat mit 4321 mehr einen Künstlerroman als einen Bildungsroman geschrieben, eine auch autobiografisch durchwirkte Versuchsanordnung, in der er noch einmal die möglichen Wege beschreitet, die einen jungen New Yorker der Nachkriegsgeneration zum Autor machen. Der Kern der Entwicklung von Archie Ferguson bleibt die Beharrlichkeit, eben schreibend die Welt erfassen zu wollen, sei es als Journalist, als Biograf oder als Schriftsteller.

Der vaterlose Archie, der einsamste, getriebenste der vier Varianten, der auch mit sexuellen Identitäten experimentiert, bleibt seinen im kulturellen Milieu von New York verharrenden Wiedergängern überlegen. Dies mag man als Beweis dafür sehen, dass Auster am fesselndsten erzählt, wenn er nicht zu eng an den Maßgaben der Realität operiert, sondern sich bedingungsloser der Fiktion hingibt. Und dafür, dass es nicht aller Extrameilen bedurft hätte. (Dominik Kamalzadeh, 31.1.2017)