Die Krise der Koalition ist auch dem Kanzler bereits deutlich anzusehen: Christian Kern leidet am politischen Zustand. So wird er seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht.

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Wie tickt Christian Kern? Meint er das ernst? Ließe er tatsächlich die Regierungszusammenarbeit platzen, wenn kein für ihn befriedigendes Ergebnis herausschaut? Oder hat er es ohnedies auf vorgezogene Wahlen angelegt und sucht bewusst einen Ausstieg aus der Koalition?

Auch die ÖVP ist ratlos und tut sich schwer, den Bundeskanzler, der seit Mai 2016 im Amt ist, einzuschätzen. Die Drohkulisse, die Kern seit Mitte der vergangenen Woche aufgebaut hat, verfehlte ihre Wirkung beim Koalitionspartner jedenfalls nicht.

Konventionen des Amtes

Kern ist offenbar nicht bereit, sich in jene Konventionen zu fügen, die rote Bundeskanzler vor ihm, Werner Faymann und auch Alfred Gusenbauer, als scheinbar unausweichliche Konsequenz des Amtes hingenommen hatten. Dass eben nichts weitergeht, dass die ÖVP ein gleichberechtigter Partner ist, der seinen Freiraum hat und diesen nutzt, dass alles abgewogen und zerredet wird, dass immer nur der kleinste gemeinsame Nenner der größtmögliche Fortschritt in der Regierungsarbeit ist. Das hat damit zu tun, dass Kern ein Manager ist, der gewohnt ist, aus einer hierarchischen Struktur heraus Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen, das hat aber auch mit dem Ego des 51-Jährigen zu tun.

Selbstbewusst und eitel

Kern ist selbstbewusst und eitel. Er weiß, was er sich nach den Versprechungen, die er abgegeben hat, schuldig ist. Er stellt höhere Ansprüche an sich als die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden und die aufgrund der koalitionären Gegebenheiten bald abgeschliffen wurden. Kern will strahlen. Die verheerenden Abnützungserscheinungen, die Faymann nach fast acht Jahren Kanzlerschaft an den Tag gelegt hat, sind ihm eine Warnung. Kern will nicht der Verwalter des sozialdemokratischen Niedergangs sein. Er will keinesfalls jener Regierungschef und SPÖ-Vorsitzende sein, der den Schlüssel des Bundeskanzleramtes an Heinz-Christian Strache übergeben muss.

Hinter Kerns Aufbäumen gegen die koalitionäre Trägheit stecken aber ganz pragmatische Überlegungen. Die in ihn gesetzten Erwartungen waren zu Amtsantritt hoch, seine Beliebtheitswerte beachtlich. Der Mythos des unkonventionellen Machers, dem die Überwindung des Stillstands zugetraut wurde, gefiel ihm enorm. Kern ist charismatisch, und nach der spröden Figur, die Faymann abgegeben hatte, fiel es ihm umso leichter, den frischen Wind des Aufbruchs zu verbreiten. Reden kann er auch, eine Wohltat nach dem Gehölzel von Faymann, der Lautstärke mit Emotionalität verwechselt hatte. Dass Kern in seiner Partei wie ein Heilsbringer gefeiert wurde, ist gleichermaßen schmeichelnd wie gefährlich.

Enttäuschte Erwartungen

Die Zuneigung, die Kern aus den Reihen der eigenen Funktionäre entgegenflutet, beflügelt ihn, ihm ist aber auch bewusst, wie schnell diese Wertschätzung in Enttäuschung umschlagen kann und wie gnadenlos gerade die eigenen Anhänger mit einem ins Gericht gehen können, wenn die Erwartungen enttäuscht werden. Erste Anzeichen gibt es bereits, die Parteijugend hat schon einen recht forschen Ton angeschlagen.

Wenn Kern so weitergemacht hätte wie bisher, wenn sich die Koalition nicht bewegt hätte, wenn den Worten keine Taten folgen würden, dann wäre Kerns Image als Macher und als Siegertyp mit spätestens Ende des Jahres zerstört gewesen. Dann hätte er seinen Startvorteil in der Auseinandersetzung mit der FPÖ und auch mit einer ÖVP unter Sebastian Kurz verloren. In den vergangenen Monaten konnte man zusehen, wie sich Kern aufreibt, wie sein Nimbus schwindet und wie er auch körperlich leidet. Er hat abgenommen.

Auf der Nase herumtanzen

Also meint es Kern ernst. Er will sich von der ÖVP nicht auf der Nase herumtanzen lassen, er will etwas Großes auf den Tisch legen – oder neu wählen lassen. Wo genau seine Prioritäten liegen, das weiß wohl nur er selbst, und manchmal hat man den Eindruck, so genau weiß er das selber nicht: ein Ergebnis erzwingen oder den Ausstieg aus der Koalition.

Mitte vergangener Woche schien klar, dass Kern Neuwahlen anstrebt und der zunehmenden Abneigung gegen die ÖVP, die sich in der Gegnerschaft zu Sebastian Kurz und Wolfgang Sobotka auch persönlich manifestiert, nachgibt. Der Theaterdonner und das gesetzte Ultimatum schienen einer klaren Exitstrategie zu folgen. Dazu kommt, dass Kern auch dünnhäutig ist. Die ständigen Untergriffe aus der ÖVP, die Vorwürfe des Dirty Campaigning nahm er persönlich. Dass ihn ausgerechnet die Kritik der politisch leichtgewichtigen Sophie Karmasin, die ihm seine Inszenierungswut vorhielt, aus der Fassung brachte, lässt gleichermaßen auf die dünn gewordenen Nerven wie auch auf einen bewussten Eskalationsablauf schließen.

Und dann schien Kern ein wenig der Mut zu verlassen. Je mehr die ÖVP einlenkte und immer so weit nachgab, dass gerade kein Koalitionsbruch argumentierbar schien, geriet der Neuwahlplan ins Schwanken. Da kamen auch die eigenen Vertrauten ins Grübeln: Traut er sich nicht?

Alles auf eine Karte

Kerns Kalkül: Trotz der guten Umfragewerte der FPÖ sieht er eine realistische Chance, dass die SPÖ mit ihm an der Spitze stärkste Kraft bleiben kann. Tatsächlich verfügt Kern persönlich über weitaus bessere Werte als FPÖ-Chef Strache, sowohl was die Beliebtheit als auch was die Kompetenz anbelangt. In einem dynamischen Wahlkampf könnte er alles auf eine Karte setzen – und dieser Wahlkampf hat bereits begonnen.

Der Auftakt war die Rede am 11. Jänner in Wels vor den eigenen Funktionären, als er seinen Plan A präsentierte. Dieser Plan, der auf 180 Seiten zusammengeschrieben war, ist ein umfangreiches Wahlprogramm. Schwerpunkt sind Arbeitsplätze, aber auch Sicherheitsfragen, die Bildung, eine Energiewende oder Steuergerechtigkeit werden angesprochen. Große Provokationen sind darin keine enthalten, es schien fast, als ob Kern es allen Wählersegmenten recht machen will.

Gratwanderung in Asylfragen

Allerdings testete der Kanzler in der Rede auch aus, was beim eigenen Publikum gut ankommt: Da wurde an den Reaktionen recht deutlich, dass die rhetorisch nur am Rande gestreiften Vermögenssteuern immer noch ein Renner sind und dass es in der Frage des Umgangs mit Flüchtlingen eine Gratwanderung wird: Haltung und Empathie zeigen, aber klare Grenzen setzen. Als Kern das Schicksal eines jesidischen Flüchtlingsmädchens schilderte, schienen ihm Tränen in die Augen zu steigen. Gleichzeitig weiß er, was er der Klientel der FPÖ bieten muss, und das kommt auch bei den eigenen Leuten gut an: Die Aufnahmekapazitäten seien erschöpft, es müsse eine klare Reglementierung geben, wenn auch nicht die von der ÖVP geforderte Halbierung der Obergrenzen. Bei der Integration von Flüchtlingen müsse man diesen ein Angebot machen können, aber auch die Bedingungen und Erwartungen klar definieren. Dieser Ansatz sollte über Parteigrenzen hinaus mehrheitsfähig sein.

Das Programm und die Themen hätte Kern für einen Wahlkampf also bereits zusammen. Der große Vorteil: Er würde die anderen Parteien auf dem falschen Fuß erwischen. Die ÖVP ist nicht geschlossen, sie hat keine Themen und keinen Plan – und sie müsste die Führungsfrage erst klären. Das könnte zu parteiinternen Verwerfungen führen, wenn Reinhold Mitterlehner nicht freiwillig das Feld räumen möchte oder Sebastian Kurz sich allzu sehr bitten ließe.

Flüchtlingswelle im Sommer

Auch für die FPÖ ist der Zeitpunkt nicht günstig: Die Niederlage von Norbert Hofer als Präsidentschaftskandidat ist noch nicht verdaut. Zudem spricht die Themenlage nicht für Strache. Das Ausländerthema wird auch von SPÖ und ÖVP bedient, und für die ganz große Aufregung gibt es derzeit keinen Anlass. Die nächste große Flüchtlingswelle wird für den Sommer prognostiziert. Sollte es Wahlen schon im Mai geben, bringt die FPÖ ihr emotionsreichstes Thema nicht wirkungsvoll auf den Boden.

Dass die Wiener SPÖ derzeit ein zerstrittener Haufen ist und kaum kampagnenfähig erscheint, wischt Kern vom Tisch: Er würde in einem Wahlkampf alles auf die Karte Kern setzen. Wenn er sich nur traut. (Michael Völker, 29.1.2017)