Während Kanzler und Vizekanzler mit einem mehrheitsfördernden Wahlrecht liebäugeln, erteilte der ÖVP-Klubchef derartigen Plänen im STANDARD eine Absage: Gerade in unsicheren Zeiten solle jede Stimme 1:1 im Nationalrat abgebildet werden.

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Wien – Reinhold Lopatka ist nicht nur wieder einmal in Opposition zu den Chefs der eigenen Koalition, sondern auch im Gleichklang mit der Opposition im Parlament. Während Kanzler und Vizekanzler mit einem mehrheitsfördernden Wahlrecht liebäugeln, erteilte der ÖVP-Klubchef derartigen Plänen im STANDARD eine Absage: Gerade in unsicheren Zeiten solle jede Stimme 1:1 im Nationalrat abgebildet werden.

Dabei verspricht ein Mehrheitswahlrecht Alternativen zur ewigen großen Koalition zu eröffnen, die viele Rote und Schwarze satt haben: Bekommt die stimmenstärkste Partei künftig gezielt mehr Mandate draufgelegt, als sie nach dem gültigen Verhältniswahlrecht errungen hätte, könnte sie allein oder mit einer der kleineren Parteien eine Regierung bilden. Was ist der Haken? Kommen kleine Gruppierungen dabei unweigerlich unter die Räder?

Der Politologe Klaus Poier hält diese Sorge für ein grobes Missverständnis. Schließlich gebe es nicht nur The-Winner-Takes-It-all-Systeme à la USA, welche Gruppen wie die Grünen aller Chancen berauben, sondern auch minderheitenfreundliche Varianten. "Natürlich verzerrt ein mehrheitsförderndes Wahlrecht das Ergebnis zugunsten der Großen", sagt Poier: Doch im Gegenzug könnten die Chancen der Kleinen aufs Mitregieren sogar steigen.

Grün hätte regelmäßig regiert

Der ÖVP-nahe Wissenschafter nennt als Beispiel ein Modell, bei dem die stimmenstärkste Partei automatisch 50 Prozent der Mandate minus einem im Nationalratssitz erhält – der Rest der Sitze wird normal nach dem Kräfteverhältnisse der übrigen Gruppierungen verteilt. Der Wahlsieger wäre folglich weiterhin gezwungen, eine Koalition zu bilden; dafür wäre aber im Gegensatz zu heute jede andere Partei groß genug.

Die Grünen beispielsweise wären in einem solchen System zwar mit weniger Stimmen im Parlament vertreten, sagt Poier: "Doch sie hätten es dafür wohl schon oft in die Regierung geschafft."

Dieter Brosz hat da seine Zweifel. Der Grün-Abgeordnete rechnet damit, dass sich die jeweils stimmenstärkste Partei ihre Mehrheit auf ganz anderem Weg beschaffen könnte. Man möge sich daran erinnern, wieviele Mandatare die ÖVP vom Team Stronach abgeworben hat: Reiche künftig ein zusätzlicher Sitz für die Regierungsbildung, "wird der Stimmenkauf noch viel lukrativer".

Demokratische Kultur ausgehebelt

Auch andere Effekte eines Mehrheitswahlrechts hebelten die Grundsätze der demokratischen Kultur aus, glaubt Brosz. Weil sich jeder Urnengang auf das Match um den ersten Platz zuzuspitzen drohte, würden noch mehr Menschen taktisch wählen statt nach inhaltlicher Überzeugung – was speziell die Grünen Stimmen kosten könnte. Aus demselben Grund würde Dirty Campaigning in Wahlkämpfen massiv zunehmen, und auch ein realpolitisches Gegenargument fällt dem Kritiker ein: In Zeiten, wo eine rechtspopulistische Partei wie die FPÖ die Umfragen anführe, sei es "unverantwortlich", dem Wahlsieger ein derartiges Übergewicht verleihen zu wollen.

Der potenzielle Triumphator will diesen Bonus freilich gar nicht. Die FPÖ richte ihre Politik nicht danach aus, wie die Umfragen stehen, sagt Verfassungssprecher Harald Stefan, weshalb es beim blauen Nein zum mehrheitsfördernden Wahlrecht bleibe. Der Nationalrat solle den Wählerwillen möglichst authentisch abbilden, argumentiert der Abgeordnete: "Das ist mehr wert als eine vereinfachte Regierungsbildung."

Die Worte der Oppositionellen haben Gewicht: Um die Zweidrittelmehrheit für eine Wahlrechtsreform zu erreichen, braucht die Koalition entweder die FPÖ oder die Grünen. (Gerald John, 24.1.2017)