Im Blogbeitrag "Linke Religionskritik – gibt’s das noch?" war die Rede von Religionskritik als "Voraussetzung aller Kritik" (Marx) und von der Emanzipation der Gesellschaft von Religion als Voraussetzung jeder gesellschaftlichen Emanzipation. 

Linke, die, ohne es zu bemerken, jene Ideologie der "vollen Identität" zwischen dem Islam und Individuen aus islamisch geprägten Ländern mit den Rechten teilen, und denen folglich die Inschutznahme einer Glaubenslehre "antirassistisch" erscheint, haben jeden Anspruch auf Religionskritik, somit jeden Anspruch auf gesellschaftliche Emanzipation aufgegeben – und sich vom linken Projekt als solchem verabschiedet.

"Islamismus" statt Islam

Konfrontiert mit diesem Vorwurf und dieser Kritik, reagieren linke Vertreter der Ideologie der "vollen Identität" mit Formeln wie: "Religionskritik allein reicht nicht aus. Religiöser Fundamentalismus muss im Blick auf seine sozialen Entstehungsbedingungen analysiert werden und auf der Basis einer Kritik des Kapitalismus/der Macht/des Imperialismus ...".

Dass der Begriff "religiöser Fundamentalismus" genau hier ins Spiel kommt, ist kein Zufall, sondern typisch für das Diskussionsverhalten vieler Vertreter des sogenannten linken Mainstreams. In ihrer Reaktion auf den Vorwurf, sie seien nicht in der Lage, (kritisch) über Religion zu reden, reden sie nicht über Religion, sondern über "Fundamentalismus". Im Falle des Islam: statt über den Islam – über "Islamismus". Mehr dazu in der nächsten Folge dieser Serie.

Hauptwiderspruch ...

Zunächst aber: das Argument "Religionskritik ist zu wenig, entscheidend ist die Kritik des Kapitalismus/der Macht/des Imperialismus ...", verkennt, dass jegliche Macht (politische, wirtschaftliche, religiöse ...), um sich etablieren und reproduzieren zu können, nicht nur unterdrücken darf. Wenn sie "stark" sein will, wie Foucault sagt¹, muss sie die Subjekte, die ihr unterworfen sind, dazu verführen, sich mit ihrer eigenen Unterwerfung zu identifizieren, ihre eigene Unterdrückung zu begehren – und: aus der Identifikation mit ihrer Unterwerfung Selbstachtung zu beziehen.

Und weil "Identifizierung mit der eigenen Unterdrückung, aus der frau/man Selbstachtung bezieht" (in der Sprache der Psychoanalyse: narzisstische Lust) ein anderer Name für den Glauben ist – bildet Religionskritik den Kern jeder Machtkritik.

Die Strategie, Religionskritik kleinzureden, indem man sie von der Kritik der Macht oder des Kapitalismus künstlich trennt, um daraufhin zu behaupten: "Religionskritik allein ist zu wenig. Entscheidend ist Macht- und Kapitalismuskritik" beraubt jede Macht- und Kapitalismuskritik ihrer Substanz. Und erinnert an die alte, in linken Debatten immer wieder reproduzierte Rede vom "Hauptwiderspruch" (der Klassengesellschaft) und vom "Nebenwiderspruch" (der Frauenunterdrückung).

... und Nebenwiderspruch

Am 8. März 1979, wenige Wochen nach dem Sieg der islamischen Revolution, demonstrierten zehntausende iranische Frauen mit Parolen wie "Freiheit ist weder westlich noch östlich – sondern universell" gegen die drohende Einführung des Kopftuchzwangs. Um sie mundtot zu machen, wurde ihnen die iranische Version der Formel vom Haupt- und vom Nebenwiderspruch entgegengeknallt: Sie mögen bitte ihren kleinlichen Kampf gegen religiöse Bevormundung bleiben lassen, um das große "antiimperialistische Bündnis" mit den islamischen Machthabern, von dem viele iranische Linke phantasierten, ja nicht zu gefährden.

Khomeini-Anhänger, Februar 1979 Foto: Reuters/IRNA

Gut möglich, dass in den Debatten jener Tage auch von Religionskritik die Rede war. Wäre dem so, wäre das Argument "Religionskritik allein" (in jenen Tagen: Kritik an der religiösen Unterdrückung von Frauen) sei zweitrangig, weil "zu wenig", wichtig sei "Machtkritik" (in jenen Tagen: Kritik am "Imperialismus"), den linken Verbündeten der islamischen Machthaber sicher sehr brauchbar erschienen. (Sama Maani, 24.1.2017)

Fortsetzung folgt.

Links

Die iranische Fotografin Hengameh Golestan fotografierte die Proteste der Frauen gegen den drohenden Kopftuchzwang im März 1979:

¹ Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 109