Fünf Männer tanzen in "Fractus V", in Choreografien der Gewalt sind sie Einzelkämpfer, multiple Persönlichkeiten, Gruppenkumpel, Täter, Opfer.

Foto: Filip Van Roe

St. Pölten – Das ist Zuviel mit Ziel. Ein politisches System kann seine Zielgruppen auch mit einer Unmasse an Informationen betäuben, anstatt sich durch den Entzug von Informationen als autoritär bloßzustellen. Deswegen schillert das Datenmonster Internet ganz geil demokratisch – und wird von vielen Endverbrauchern tatsächlich so verstanden. Aber leider kostet das Filtern dieser Infoflut viel mehr Zeit und Arbeit, als normale Nutzer aufwenden können.

In solche von dem US-amerikanischen Philosophen Noam Chomski abgeleiteten Einsichten hat sich der zeitgenössische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui für seine Arbeit Fractus V (2015), die gerade im Festspielhaus St. Pölten zu sehen war, vertieft. Dazu passend wird das Festspielhaus, in dem der international gefeierte Belgier bereits des Öfteren gastiert hat, Ende Februar (25. 2.) eines seiner älteren großen Stücke präsentieren: Babel (Words) aus dem Jahr 2010, auf das bei Fractus V einige Male angespielt wird.

Körper unter Druck

In beiden Werken geraten Körper unter Druck. Allenthalben herrscht Überangebot, aber nicht nur an wirren Informationen und irren Sachen, sondern auch an Forderungen gegenüber jenen, die sich alles, alles leisten wollen sollen. Ganz offensichtlich gehört Disziplinierung durch Überforderung zu den Grundlagen einer von ökonomischen Ideologien abgeleiteten Politik. Bei Cherkaoui führt das zum Bruch des Sozialen, daher eskaliert die Gewalt. Auf der Bühne in Fractus V zeigen ausschließlich Männer, wie das geht – fünf ausgezeichnete Tänzer und vier exzellente Live-Musiker.

Festspielhaus St. Pölten

Trotz seiner eindeutigen Botschaft ist dieses erstmals in Österreich gezeigte Stück kein politpropagandistisches Pamphlet, sondern ein dunkel ironisches Spiel geworden. Darin wird, als Intermezzo, Chomskys unaufgeregt formulierte und doch knallharte Systemkritik in knappen Happen auf die Bühne projiziert. Ständig verwandeln sich die neun Männer: in Einzelkämpfer und in an indische Götter erinnernde multiple Persönlichkeiten, dann weiter in Gruppenkumpel oder in Täter sowie Opfer bei brutalen Filmszenen.

Bei diesen Choreografien der Gewalt wird heftig geprügelt respektive schier endlos geballert – ganz in Action-Manier à la Hollywood. Diese raffinierten, hart an der Persiflage entlanggeführten Szenen stellen die Filmindustrie als psychoaktive Maschinerie für Kriegspropaganda dar. Deren Sinnlichkeit unterwirft sich ein vor allem männliches Zielpublikum mit Genuss und glaubt praktischerweise ernsthaft daran, bestens unterhalten zu werden.

Therapiemodell

In seinem Tanz löst Cherkaoui die durch nachgespielte Brutalitäten ausgelösten Spannungen stets relativ schnell wieder auf. Wenn schon nicht unbedingt in Harmlosigkeit, dann aber doch in stellenweise meditativ wirkenden Stimmungen und Motiven, über die er auch ein kleines Therapiemodell einschleust. Er kann sich den Ratschlag nicht verkneifen, man möge sich dem ganzen Stress entziehen, die ständige Überforderung fahren lassen und versuchen, Abstand zu dem zu gewinnen, was unablässig und mit aller Macht an uns zerrt.

So wirkt Fractus V wie die Anregung zu einem Verhalten, das Noam Chomsky "geistige Selbstverteidigung" nennt. Die Tänzer, darunter der Choreograf selbst, führen jedoch nicht vor, wie man das macht, sondern erzeugen im Publikum Gefühle des Gefangenwerdens und sich wieder Befreiens.

Ästhetisch angesprochen werden mit diesem Stück weniger jene, die sich eh schon in der Opposition wähnen, sondern eher Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem in respektablem Sinn kulturellen Mittelstand. Das ist ein besonderes Plus von Fractus V. Es wurde mit lautem Jubel und Standing Ovations quittiert. (Helmut Ploebst, 22.1.2017)