Monomanischer Kampf gegen die "Welscherei": Philologe Eduard Engel (1851-1938).

Foto: aus dem besprochenen Werk

Habent sua fata libelli, Bücher haben ihre eigenen Schicksale, und dieses hier hat ein tragisches. Eduard Engels Deutsche Stilkunst gehört in eine lange Tradition deutscher Prosalehrbücher (Wustmann, Reiners, Wolf Schneider usf.), eines nicht ganz unproblematischen Genres. Dies deshalb, weil sich Prosalehrer gerne so gerieren, als seien sie im Alleinbesitz des Wissens, was "guter Stil" ist, und in apodiktischem Tonfall ein Regelwerk dekretieren, welches der kritischen Befragung häufig nicht standhält.

Von den deutschen Prosalehrern war Engel einer der erfolgreichsten. 31 Auflagen erlebte seine 1911 erstmals erschienene Deutsche Stilkunst bis zum Jahr 1931. Das immense Zitatenmaterial in dem fast tausend Seiten starken Buch hatte der 1851 geborene, hochgebildete Philologe Engel aus unzähligen literarischen Werken zusammengetragen. Auch seine jahrzehntelange Tätigkeit als Stenograf im Deutschen Reichstag kam ihm zugute.

Schon vor dem Dritten Reich sah sich Engel seiner jüdischen Herkunft wegen allerlei Anfeindungen ausgesetzt, die die Nazis von 1933 an in schändlicher Weise intensivierten. Der greise Engel wurde mit einem Publikationsverbot belegt und in die Armut getrieben. "Ich bin vor 54 Jahren aus dem Judentum ausgetreten, trotzdem sind meine Bücher verboten, und ich leide mit meiner Frau – aus dem Hause Kleist – bitterste Not", klagte der Hochbetagte kurz vor seinem Tod 1938 in einem Brief an einen adeligen Freund.

Großzügig bedient

Ein Nutznießer seines Schaffens fand sich schnell in der Person des Kaufmanns und Schriftstellers Ludwig Reiners, der fünf Jahre nach Engels Tod, 1943, ebenfalls eine Deutsche Stilkunst (später nur Stilkunst) publizierte. Für dieses Opus, das zu einem populären Longseller wurde, hatte sich Reiners mehr als großzügig aus Engels Arbeit bedient. Der Schweizer Altphilologe und Gymnasiallehrer Stefan Stirnemann, der das Vorwort zur Neuauflage von Engels Deutscher Stilkunst verfasst hat, bezeichnet Reiners unverblümt als "Plagiator" und "Betrüger", der sich einer geistigen Arisierung schuldig gemacht habe.

Die deutsche Germanistin Heidi Reuschel formuliert in ihrer 2014 erschienenen Dissertation Tradition oder Plagiat? Die "Stilkunst" von Ludwig Reiners und die "Stilkunst" von Eduard Engel im Vergleich zurückhaltender, kommt aber auch zum Schluss, dass "die Fülle der im praktischen Teil belegten Paraphrasen und der teilweise übernommenen Strukturen den Schluss zulassen, dass in Reiners' Stilkunst an vielen Stellen Plagiate vorliegen".

Ein Steinbruch von Zitaten

Vor diesem publikationshistoritischen Hintergrund ist es als schöne Geste zu werten, wenn der Verlag der Anderen Bibliothek Engels Deutsche Stilkunst wieder zugänglich gemacht hat und es dem (oder der) Interessierten erlaubt, hinter Reiners zurück ad fontes zu gehen. Die Aufmachung des Buches ist, wie von der Anderen Bibliothek gewohnt, gediegen und ansprechend. Aus der Lektüre von Engels Buch wird freilich nur ein sehr spezieller Leserkreis Nutzen ziehen können.

Seine Meriten hat es als riesiger Steinbruch von Zitaten, die Engel aus den Werken der bekanntesten Schriftsteller ebenso zusammengetragen hat wie aus denen vollkommen vergessener. Häufig finden sich die wunderbar giftigen Passagen Schopenhauers über die Schriftstellerei aus den Parerga und Paralipomena. Engels größte, geradezu rührende Liebe gilt aber Goethe, was ihn nicht daran hindert, den Dichterfürsten gelegentlich sogar sprachkritisch zu zausen – zum größten Missfallen von Karl Kraus übrigens, der Engel in der Fackel etliche Male auf sehr gallige Weise traktiert hat.

Monomanischer Kampf gegen die "Welscherei"

Es gibt in Engels 1000-Seiten-Opus manche amüsante oder anregende Passage, aber auch katastrophale Fehlurteile, wenn er etwa Jean Paul oder Hegel pauschal für obsolet erklärt oder empfiehlt, welcher/welche/welches in jedem Fall durch der/die/das zu ersetzen. Das ist in einem rein technischen Sinn möglich, dass aber bei dieser Prozedur subtile Bedeutungsnuancen der beiden Relativpronomen verlorengehen – Karl Kraus hat das Thema in einem Aufsatz (Der und welcher) tiefschürfend erörtert -, sollte einem Stillehrer nicht verborgen geblieben sein. Ganz und gar wunderlich wirkt auf den heutigen Leser Engels Manier, angebliche Sprachsünder mit Neologismen wie "Beiwörtler" o. Ä. zu schelten, desgleichen sein monomanischer Kampf gegen die "Welscherei": "Erfüllt vom Ekel des sprachsauberen Menschen gegen die schmuddelige Fremdwörtelei, schrieb Lessing über den unsauberen Stil Wielands in dessen Jugendwerken: ,Alle Augenblicke lässt er seine Leser über ein französisches Wort stolpern.'"

Wer an eigenwilligen Sprachkuriosa Gefallen findet oder einschlägig germanistisch interessiert ist, mag sich die Deutsche Stilkunst getrost in den Bücherschrank stellen. Sie als Lehrbuch für gutes Schreiben heranzuziehen wäre allerdings ein gravierender Irrtum. (Christoph Winder, 31.1.2017)