Personalwechsel an der Spitze von Parlamenten sind in Demokratien keine große Sache. Normalerweise. In den meisten Ländern wird der stimmenstärksten Partei das Recht zugestanden, den Posten des Präsidenten zu besetzen. Die sucht dann unter ihren Abgeordneten einen Mann oder (nach wie vor seltener) eine Frau aus, der oder die viel Erfahrung mit den Abläufen in der gesetzgebenden Kammer hat und dem/der zugetraut wird, "das Haus" in der politischen Auseinandersetzung der Fraktionen fair und unabhängig zu führen.

Parlamentspräsidenten werden daher in der Regel tadellose Politiker mit Hang zu Ausgleich und Milde; oder solche, die ihre besten Zeiten als politische "Frontkämpfer" oder Regierende hinter sich haben.

Die Bürger kennen sie zwar. Aber im politischen Alltagsgeschäft spielen sie keine große Rolle, sondern eher im Repräsentieren und beim Erklären des Grundsätzlichen.

So war das im Prinzip über Jahrzehnte auch im Europäischen Parlament – bis 2012 Martin Schulz kam.

Neu definiert

Der Deutsche – ein ebenso kämpferischer wie lauter und ehrgeiziger Sozialdemokrat, dem Eitelkeit und Drang in die Medien nicht fremd sind – hat den Job des Parlamentspräsidenten in den vergangenen fünf Jahren neu definiert. Anstatt in Straßburg und Brüssel nur Sitzungen abzuspulen, machte er sich neben den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten und den beiden anderen Präsidenten der wichtigsten EU-Institutionen zu einer unübersehbaren Figur der Politik in Europa: als eine Art Regierungsparlamentspräsident.

Den EU-Abgeordneten gefiel das einerseits, denn Schulz verlieh ihnen als Gesamtem und der "guten europäischen Sache" ein prägnantes Gesicht.

Andererseits wurde an seinem exekutiven Stil mokiert, dass er die Arbeit der verschiedenen Fraktionen, die Unterschiede der Positionen damit zudeckte. Die Fraktionschefs wurden öffentlich noch farbloser, als sie es waren. Noch dazu, wo Schulz mit den Christdemokraten (und deren Kommissionschef Jean-Claude Juncker) eine enge großkoalitionäre Achse bildete, einen Klüngel, an dem Kritik und Widerspruch schlicht abprallten.

All das (und noch einiges mehr) war mit ein Grund, warum der Abgang von Schulz diese Woche und die Wahl seines Nachfolgers Antonio Tajani so turbulent über die Bühne gingen. Eine Ära ging zu Ende, ohne Zweifel.

Neu erfinden

Das Parlament muss sich nun, wie es scheint, selber "neu" erfinden. Sichtbarer Ausdruck dafür: Die langjährige Koalition von EVP und S&P ist zerbrochen, vorläufig. Die Sozialdemokraten wollen ihr Profil schärfen, ab sofort viel mehr für Gerechtigkeit und Sozialpolitik kämpfen. Die Christdemokraten suchten den Pakt mit den Liberalen für einige "EU-Projekte". Sie wollen die Koalition offenbar teilweise als politischen Dreier fortsetzen.

Das könnte in der festgefahrenen europäischen Situation belebend sein. Die EU-Staaten und ihre Bürger brauchen weniger hohle Phrasen, aber eine breite und tiefe inhaltliche Debatte darüber, wohin die Reise insgesamt geht; wie die Union sozialer wird, wie sie den Jungen Chancen gibt; wie man mit EU-Skeptikern und -Zerstörern umgeht. Das ist in Zeiten, in denen im Weißen Haus ein sehr unberechenbarer US-Präsident einzieht und Großbritannien seinen Auszug aus der Union startet, unumgänglich. Das Europaparlament als Zentrum muss diese Debatte beginnen, egal wer dort gerade auf welche Weise Präsident ist. (Thomas Mayer, 18.1.2017)