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Sein Hauptwerk schrieb der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi unter dem Einfluss der Großen Depression – 1931 forderten Demonstranten eine Besteuerung von Großaktionären.

Foto: Picturedesk / Library of Congress

Karl Polanyi (1886 – 1964) in einer Aufnahme aus dem Jahr 1964.

Foto: Kari Polanyi Levitt

Linz – Wenn man die Entwicklung westlicher Demokratien seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 aus einer Metaebene betrachtet, fallen dabei zwei Tendenzen auf: Zunächst wäre da der steigende Zustrom, den extreme politische Gesinnungen erfahren. Während die Parteien, die in der Mitte des politischen Spektrums stehen, europaweit Verluste hinzunehmen haben, gewinnen linke und rechte Politiker. Zweitens ist weltweit ein zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich zu beobachten.

Um das Zusammenspiel dieser beiden Tendenzen und den gegenwärtigen Zustand, in dem sich westliche Demokratien befinden, verstehen zu lernen, gibt es ein Buch, nach dem Wirtschaftswissenschafter, Soziologen und Politikwissenschafter seit einigen Jahren wieder öfter greifen: "The Great Transformation" des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi. Vergangene Woche wurde an der Johannes-Kepler-Universität Linz gar eine gesamte Konferenz mit dutzenden internationalen Vortragenden eben diesem Buch gewidmet – organisiert von dem dortigen Institut für Soziologie und dem Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft sowie der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Wien und einer Forschergruppe der Universität Jena.

Akademischer Außenseiter

Dass "The Great Transformation" aus dem Jahr 1944 heute zu einem der Hauptwerke der Soziologie zählt, von Wirtschaftsnobelpreisträgern wie Joseph Stiglitz empfohlen wird oder ihm eben eigene akademische Konferenzen gewidmet werden, ist durchaus überraschend. Denn Karl Polanyi selbst war die längste Zeit seines Lebens ein akademischer Außenseiter, der an den Universitäten weder eine Anstellung noch Anerkennung fand.

1886 in Wien in eine intellektuelle, bürgerliche Familie geboren, studierte er später in Budapest Rechtswissenschaften und Philosophie. Dort engagierte er sich in der linken Studentenbewegung und war auch aktiv im dortigen sozialistischen Bildungsangebot für Arbeiter.

Als Soldat am Ersten Weltkrieg erkrankte er schwer, konnte sich aber in einem Militärspital in Budapest wieder erholen. Der Ungarischen Räterepublik, die im März 1919 ausgerufen wurde, stand er ambivalent gegenüber. Kurz vor ihrem Zusammenbruch im August 1919 floh er nach Wien – wie viele ungarische Intellektuelle der damaligen Zeit. 1920 lernte er seine Frau Ilona Duczynska kennen, die als Aktivistin ebenfalls aus politischen Gründen aus Budapest geflohen war. Das Paar hatte eine Tochter: Kari Polanyi Levitt und bewohnte eine Wohnung in der Vorgartenstraße 203 im zweiten Bezirk.

Das Rote Wien

In Wien war Polanyi als Journalist tätig und bei der wirtschaftspolitischen Zeitschrift "Der Österreichische Volkswirt" angestellt. Das Rote Wien machte einen prägenden Eindruck auf ihn – nicht nur weil es die einmalige historische Situation darstellte, dass Arbeiter privilegiert waren. Auch für einen Intellektuellen wie Polanyi bot das Rote Wien hervorragende Möglichkeiten.

"Die Tatsache, dass jemand wie Polanyi, der keinen hohen Status hatte und nicht an der Universität angestellt war, mit den berühmten Professoren seiner Zeit wie Ludwig von Mises auf Augenhöhe in Diskussion treten konnte, war außergewöhnlich", sagt Michael Burawoy, Soziologe an der Berkeley Universität in Kalifornien.

Aufgrund seiner jüdischen Herkunft verlor Polanyi die Anstellung 1933 und emigrierte nach Großbritannien – seine Frau und seine Tochter blieben noch in Wien. Wie sich Kari Polanyi Levitt erinnert, brachte der Umzug für Karl Polanyi einen Schock: Der Anhänger des Roten Wiens war von der sozialen Lage der Arbeiter in Großbritannien entsetzt. Aus nächster Nähe nahm er nun Anteil an den sozialen Folgen der Dominanz des Marktes, die der Theoretiker des Sozialismus Karl Marx einige Jahrzehnte zuvor ebenfalls in Großbritannien analysiert hatte, woraus sein Hauptwerk Das Kapital hervorging.

Texte schreiben und für Flüchtlinge spenden

"Wo immer Karl Polanyi gelebt hat, hat er sich in den gegenwärtigen Bewegungen engagiert", sagt Kari Polanyi Levitt über ihren Vater. "Die Fragen, die ihn beschäftigten, waren Fragen, die sich am jeweiligen Ort zur jeweiligen Zeit stellten." Engagement – das konnte für ihn alles Mögliche bedeuten, Kurse für Arbeiter abzuhalten, Geld für Flüchtlinge zu spenden (auch zu Zeiten, als er selbst nicht viel hatte), und vor allem: Texte zu schreiben, und zwar in einer Weise, dass sie für die Allgemeinheit verständlich waren. Als er einmal formulierte, was der zweite Teil von "The Great Transformation" leisten sollte, nutzte er die Adjektive "rücksichtslos ehrlich", "konsistent", "intelligent", "wahr", "vollständig" und "praktisch".

Der Versuch, den Karl Polanyi in The Great Transformation unternimmt, ist, den Zerfall der liberalen Zivilisation des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. Mit dem Satz "Die Welt des 19. Jahrhunderts ist zusammengebrochen" eröffnet Polanyi sein Werk, um dann die Gründe und Folgen dieses Zerfalls zu umkreisen.

Asymmetrische Dynamik

Kari Polanyi Levitt: "Karl Polanyi fühlte die Verantwortung seiner Generation für all die furchtbaren Dinge, die passiert waren." Doch woran liegt es, dass Polanyis Buch in den vergangenen Jahrzehnten eine steigende Popularität erfahren hat? Wenig überraschend gibt es darauf mehrere Antworten und je nachdem, wen man fragt, bekommt man eine andere Erklärung zu hören.

Ein zentrales Konzept für die Aktualität der Theorien Polaniys ist das der sogenannten Doppelbewegung. Im Hinblick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert schrieb Polanyi von einer asymmetrischen Dynamik: Während sich die linken Gruppierungen immer stärker in den Parlamenten verankerten, konzentrierten sich rechte Gruppen auf die Wirtschaft.

Der linke Denker Polanyi machte in "The Great Transformation" keinen Hehl daraus, auf welcher Seite er stand: "Wir vertreten die These, dass die Idee eines selbstregulierenden Marktes eine krasse Utopie bedeutet. Eine solche Institution konnte über längere Zeiträume nicht bestehen, ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstört und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt."

Dieser Machtkampf kann nach Polanyi entweder zugunsten des Marktes oder zugunsten der Zivilgesellschaft ausgehen: Wenn sich der Markt durchsetzt, sei das der Weg in den Faschismus, wenn die Demokratie die Bevölkerung vor dem Markt in Schutz nimmt, führt das zum Sozialismus – jedenfalls in der historischen Situation, die Polanyi analysierte.

Einfache Erklärungen

Zwar kann die Große Depression der 1930er-Jahre klarerweise nicht mit der Finanzkrise von 2008 gleichsetzt werden, dennoch stellt sich ausgehend vom Nährboden, den die Große Depression für den Faschismus bereitet hat, für heutige Intellektuelle die Frage: Warum gelingt es den Rechten eher als den Linken, verständliche Antworten und Erklärungen für die breite Masse zu formulieren? Eine Frage, die auch bei der Linzer Tagung in zahlreichen Panels diskutiert worden ist.

Für Gareth Dale, Politikwissenschafter an der Brunel-Universität London, der 2010 eine Biografie über Polanyi vorlegte, liegt der Erfolg der Rechten vor allem im Versagen der Linken begründet: "Sozialistische und sozialdemokratische Parteien haben sich seit Jahrzehnten mit immer weniger Kritik an die Marktwirtschaft geschmiegt." Als Folge hätten es linke Parteien nun schwerer, glaubhaft Arbeiter anzusprechen.

Hans-Jürgen Bieling, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen, führt den Erfolg der Rechtspopulisten in den europäischen Ländern in den vergangenen Jahren unter anderem darauf zurück, dass sich die rechten Parteien nun verstärkt für die sozialen Fragen einsetzen. Etwa war der französische Front National in den 1980ern noch eine stark neoliberale Partei, heute tritt er für den französischen Wohlfahrtsstaat ein – jedenfalls für die autochthone Bevölkerung. Auch die polnische Regierungspartei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) habe etwa mit der Heraufsetzung des Kindergeldes Wahlkampf betrieben, so Bieling.

Zäsur für Europa

Im Anbetracht des Aufstiegs der Rechtspopulisten habe es Europa gegenwärtig mit einer Zäsur zu tun, sagt Klaus Dörre, Professor für Soziologie an der Universität Jena. Er bezieht sich damit auf den deutschen Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas, der von einem "Saatboden für einen neuen Faschismus" gesprochen hat.

Die rechte Mobilisierung auf der Straße, etwa durch Pegida, sei schon länger bekannt, neu sei der erfolgreiche politische Arm der Rechtspopulisten in fast allen europäischen Ländern. So passiere es, dass sich das politische Meinungsklima nach rechts verschiebe und plötzlich auch sozialdemokratische Politiker eine "Das Boot ist voll"-Argumentation gegen die Aufnahme von Flüchtlingen vertreten. Diese hat mit dem sozialdemokratischen Gestus, der alle schutzbedürftigen gesellschaftlichen Gruppen schützen will und den Karl Polanyi in den 1920er-Jahren im Roten Wien erlebt haben will, nicht mehr viel zu tun. (Tanja Traxler, 18.1.2017)