Carlo Rubbia war Generaldirektor des europäischen Kernforschungszentrums Cern, als dort das WWW entwickelt wurde. Die internationale Vernetzung, die damit erreicht werden konnte, hat laut Rubbia zu einem "Boost für eine bessere Wissenschaft" geführt.

Foto: Corn

STANDARD: Sie waren von 1989 bis 1993 Generaldirektor des Kernforschungszentrums Cern – in der Zeit, als dort das WWW entstand: 1989 wurde es entwickelt, 1993 der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Wie hat sich die Wissenschaft dadurch verändert?

Rubbia: Das Cern hat die Pionierleistung vollbracht, einen anderen Weg zu entwickeln, Wissenschaft zu betreiben. In der Vergangenheit war Forschung ein lokaler Prozess. Heute ist sie eine kollaborative, internationalisierte Anstrengung, die Menschen an verschiedenen Orten in Echtzeit zusammenführt. Es gibt keine Forschungscommunity mehr, die nicht vernetzt ist, und das ist ein ungemeiner Boost für bessere Wissenschaft. Das Cern ist ein Musterbeispiel dafür – dass das WWW dort entwickelt wurde, ist kein Zufall. Dadurch hat das Cern eine wichtige historische Bedeutung: Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wissenschaft in Europa zerstört. Die Internationalisierung, die das Cern vorantrieb, war der Mechanismus zur Erholung der europäischen Wissenschaft.

STANDARD: Die letzte große Entdeckung am Cern war der Nachweis des Higgs-Teilchens 2012. Was könnten zukünftige wichtige Entdeckungen am Cern sein?

Rubbia: Große Entdeckungen in der Wissenschaft lassen sich nie vorhersagen. Es gibt ein Überraschungsmoment, das nicht unterschätzt werden sollte. Das Cern hat gute Arbeit geleistet, ein Programm zu entwickeln, das sehr erfolgreich ist. So wurde es zum Traum für Wissenschafter aus der ganzen Welt. Ich bin sicher, dass das Cern auch in der Zukunft wundervolle Entdeckungen machen wird, aber es ist schwer zu sagen, in welche Richtung man gehen soll, um Neues zu entdecken. Mein Motto dabei ist: tun, was sonst niemand tut. Denn wenn man tut, was jeder tut, ist die Chance, etwas Großes zu entdecken, gleich null.

STANDARD: Sie haben den Physiknobelpreis für die Entdeckung der W- und Z-Bosonen erhalten. Verglichen mit anderen Elementarteilen wurden diese relativ spät gefunden. Wie ist Ihnen 1983 der Nachweis gelungen?

Rubbia: Das hat mehrere entscheidende Gründe, darunter technische: Simon van der Meer, mit dem ich den Nobelpreis bekommen habe, und ich haben damals die alte Beschleunigertechnologie durch einen Collider ersetzt. Das hat uns die Möglichkeit eröffnet, unerwartete Energien zu erreichen. Mit einem Beschleuniger hätten wir diese Teilchen kaum finden können.

STANDARD: Welche Bedeutung hat die Entdeckung dieser Teilchen?

Rubbia: Die W- und Z-Bosonen vermitteln die schwache Wechselwirkung, eine der vier fundamentalen Grundkräfte der Physik. Die Sonne ist ein schwach wechselwirkender Stern, die W- und Z-Bosonen vermitteln die Kraft bei der Fusion von Wasserstoff zu Helium. Weiters ist die Radioaktivität entscheidend in der schwachen Wechselwirkung.

STANDARD: Mit der Entdeckung haben Sie einen wichtigen Beitrag zum Standardmodell der Teilchenphysik geleistet, das alle Elementarteilchen zusammenfasst – ist das Modell nun an seine Grenzen gelangt?

Rubbia: In den letzten 30 Jahren hat sich das Standardmodell allen möglichen Versuchen entzogen, es zu widerlegen. Es gibt sehr wenige Aspekte, wo das Standardmodell eine Erweiterung braucht, etwa deckt es nicht die letzte der vier Grundkräfte ab: die Gravitation. Das ist ein großes Problem.

STANDARD: Haben Sie eine Idee, wie man dabei zu einer Lösung kommen könnte?

Rubbia: Zunächst glaube ich, dass die Beschleuniger nicht mehr die einzige Lösung sind. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Aktivitäten, zum Beispiel Untergrundexperimente. Wenn man tief unter die Erde geht, schaltet man Hintergrundstörungen aus. Das Ziel ist, etwas zu erwischen, was ein Hinweis für neue Physik wäre. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, wonach wir suchen.

STANDARD: Sie forschen seit Jahren zu grüner Energie – was interessiert Sie daran?

Rubbia: Das Energieproblem ist ein wirklich wichtiges Problem für die Gesellschaft. Das liegt auch an der steigenden Anzahl der Menschen und den damit verbundenen Anforderungen an die Umwelt. Ich bin zwar alt, aber nicht so alt, und während meines Lebens hat sich die Bevölkerung auf der Erde um den Faktor 3,7 erhöht. Zudem verbrauchen wir heute zwölfmal so viel Energie als zu der Zeit, als ich geboren wurde. So kann es nicht weitergehen. Ein Lösungsansatz dafür ist erneuerbare Energie.

STANDARD: Wäre es beim jetzigen technischen Stand möglich – gesetzt den Fall, dass der politische Wille dafür vorhanden ist -, den gesamten Energiebedarf mit erneuerbaren Quellen abzudecken?

Rubbia: Nein, ich denke nicht. Vor 15 Jahren gab es viele Leute, die gesagt haben, wir können nun rasch auf erneuerbare Energien umsteigen. Jetzt sehen wir, dass das doch nicht so schnell geht. Das Problem ist nicht gelöst, wenn wir einfach fossile durch erneuerbare Energiequellen ersetzen. Das Hauptproblem sind die CO2-Emissionen. Dazu brauchen wir noch viel Forschung, um herauszufinden, ob es möglich wäre, dass auch fossile Energien zu einem nachhaltigen Energiehaushalt beitragen könnten.

STANDARD: Wie könnte das funktionieren?

Rubbia: Ich entwickle derzeit eine alternative Methode, um fossile Energie zu nützen. Dabei gehen wir von natürlichem Gas aus – einer sehr sauberen Quelle für fossile Energie. Wenn man dieses verbrennt, entsteht normalerweise CO2. Wir entwickeln aber eine Methode, natürliches Gas zu Black Carbon umzuwandeln, denn dann gibt es keine CO2-Emissionen. Wir waren in den letzten Jahren sehr erfolgreich, es ist es uns bereits gelungen, natürliches Gas zu produzieren. Im nächsten Schritt wollen wir in die industrielle Anwendung gehen.

STANDARD: Welche Vorteile würde die Methode gegenüber erneuerbarer Energie bieten?

Rubbia: Wenn diese Methode funktioniert, wäre natürlich die billigste Energie die beste Energie. Es gibt noch viele Fragen, die bei erneuerbarer Energie gelöst werden müssen: Wind- und Sonnenenergie sind nicht immer verfügbar. Wir brauchen also sehr große Speicher – das ist schwierig zu lösen.

STANDARD: Wäre es für einen nachhaltigen Energiehaushalt ausreichend, neue Quellen grüner Energie zu erschließen, oder müssen wir auch unseren Energiebedarf reduzieren?

Rubbia: Das kommt darauf an, wo man lebt. Wenn Sie sich fragen, ob Sie mit etwas weniger Energie leben könnten, würden Sie wohl sagen: Ja. Menschen, die in Europa, Nordamerika oder Saudi-Arabien leben, könnten das. Aber wenn man sich die Situation global ansieht, wären für die Mehrheit der Menschen zusätzliche Energieressourcen essenziell für ein besseres Leben.

STANDARD: Sie arbeiten auch an einer Methode zum Energietransport – worum geht es?

Rubbia: Wind- oder Sonnenergie kommen oft nur an bestimmten Orten vor, wo sie aber nicht unbedingt gebraucht werden. Die Energie muss daher Tausende von Kilometern transportiert werden – und das führt zu großen Verlusten. Wir arbeiten daran, das Prinzip der Supraleitung für den Energietransport einzusetzen. Supraleiter sind Materialien, die bei niedrigen Temperaturen ohne Verlust elektrische Energie transportieren können. Das sieht nach einer vielversprechenden Möglichkeit aus, die aber noch viel Forschungsarbeit bedarf. (Tanja Traxler, 20.1.2017)