Im Blogbeitrag "Warum wir Linken über den Islam nicht reden können" war die Rede vom neuen rassistischen Diskurs von FPÖ, AfD und Co und von dem – sich selbst als "antirassistisch" missverstehenden – Diskurs des linken und liberalen Mainstreams. Beide stellen, mit je unterschiedlicher Absicht, eine falsche fixe Verknüpfung zwischen Individuen aus islamisch geprägten Gesellschaften und "dem Islam" her. Rassistisch ist genau diese fixe Verknüpfung und nicht, wie es Begriffe wie "Islamophobie" suggerieren, die Angst vor einer (oder die Ablehnung einer) Glaubenslehre.

Du bist Iraner – also bist du Schiit

Im Widerspruch zu den Grundannahmen dieser weit verbreiteten "Ideologie der vollen Identität" zwischen real existierenden Subjekten und einem Glaubensbekenntnis gibt ein großer Teil von in Deutschland lebendenden, aus islamisch geprägten Ländern stammenden Migranten in Umfragen an, kein Muslim zu sein. So etwa 50 Prozent der aus dem Iran und 36 Prozent der aus dem "Nahen Osten" stammenden Befragten.

"Hinzu kommt", so die Sozialwissenschafterin Riem Spielhaus, "ein auf den ersten Blick überraschendes Ergebnis, das ... bis heute kaum wahrgenommen und diskutiert wurde: Ein signifikanter Anteil der Befragten, die sich laut Studie durchaus zum Islam bekannten, charakterisierte sich außerdem als 'nicht gläubig' oder 'eher nicht gläubig' ... anders gesagt, spielt der Glaube für sie keine große Rolle in ihrem Leben."

Und:

"Menschen aus moslemischen Ländern werden ... immer wieder mit der Frage nach der religiösen Zugehörigkeit konfrontiert und unabhängig von ihrer eigenen religiösen Praxis oder Selbstdefinition zum Moslem erklärt oder nehmen diese Zuschreibung an, ohne dass dies notwendigerweise ihre Lebensrealität widerspiegelt."¹

Zuschreibungen solcher Art haben mitunter fatale Folgen. Im Juli 2016 berichtete "Zeit Online" über den iranischen Asylwerber Reza Hashemi (Name geändert). Bei dessen erstem Interview im deutschen Bad Berleburg weigerte sich der Dolmetscher zu übersetzen, dass er Atheist sei. "Er sagte mir: 'Du bist Iraner, also bist du Schiit.'"

Die Brechung dieser Ideologie der vollen Identität wäre aber nicht nur für atheistische Asylwerber aus Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit von Bedeutung, sondern auch und gerade im Blick auf jene Menschen, die sich tatsächlich "voll" mit dem Islam identifizieren. Denen die volle Identifizierung mit dem Islam also nicht bloß von außen zugeschrieben wird.

Foto: dpa/Thomas Frey

Keine gesellschaftliche Emanzipation ...

Genau hier, wo Menschen sich mit ihrer eigenen Unterwerfung identifizieren, ihre eigene Unterdrückung begehren und aus der Identifikation mit ihrer Unterwerfung Selbstachtung beziehen, sollte linke, emanzipatorische Religionskritik ansetzen. Denn: Herrschaft kann sich ohne Identifizierungsprozesse dieser Art weder etablieren noch reproduzieren.

Linke Religionskritik setzt jedoch die Erkenntnis voraus,

  • dass weder "Kulturen" noch Religionen unauflöslich mit bestimmten Ländern, Gesellschaften oder Individuen verknüpft sind,
  • dass Menschen ihre Religion auch ändern, dass Religionen, wie im Lauf der Geschichte immer wieder der Fall, schlicht aussterben können,
  • und vor allem, dass Individuen nicht auf "ihre" Kultur oder ihre (vermeintliche oder tatsächliche) Religion reduzierbar sind.

... ohne die Emanzipation der Gesellschaft von Religion

Vertreter des linken Mainstreams jedoch, die jene Ideologie der vollen Identität, ohne es zu bemerken, mit den Rechten teilen – eine Ideologie, die zwischen "dem Islam" und einzelnen Individuen keinen Unterschied macht – und denen folglich die Inschutznahme einer Glaubenslehre "antirassistisch" erscheint, haben jeden Anspruch auf Religionskritik aufgegeben.

Weil aber "die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik" ist, wie Marx anmerkt, und daher die Voraussetzung aller Emanzipation, ist gesellschaftliche Emanzipation ohne die Emanzipation der Gesellschaft von Religion nicht zu haben.

Die Preisgabe des Anspruchs auf Religionskritik bedeutet somit nichts anderes als die Preisgabe des Anspruchs auf gesellschaftliche Emanzipation – anders gesagt: den Tod des linken Projekts. (Sama Maani, 17.1.2017)

Fortsetzung folgt.

Links

Warum wir Linken über den Islam nicht reden können

Flüchtlinge ohne Religion (Zeit Online)

¹ Muslime in der Statistik – Wer ist Muslim und wenn ja wie viele?