Die Nähmaschine Dürkopp Adler surrt, die Näherin ist hochkonzentriert. Unter der Nadel tauchen immer neue graue, etwas unförmige Plastikteile auf, die aussehen wie langgezogene Wolken. Daneben näht eine andere Bosnierin schwarze "Wolken". Sie alle werden später zusammengefügt, bis daraus Überzüge für Autositze entstanden sind. Hunderte Frauen und Männer, die in dem Unternehmen Preventin Goražde nebeneinander in der Werkshalle sitzen, gehören zu den Glücklichen des Landes – denn sie haben einen Job, der regelmäßig und verlässlich ein Gehalt bringt. Viele Bosnier bekommen ihren Lohn erst ein paar Monate später, manchmal gar nicht.
Ausgerechnet der Ort mit nur 22.000 Einwohnern irgendwo hinter den Bergen, an der Grenze zu Montenegro, der im Krieg (1992–1995) von der bosnisch-serbischen Armee belagert wurde, ist heute Ziel für Arbeitssuchende. Ein paar Leute sind sogar aus größeren Städten wie Sarajevo und Tuzla hierher ins Hinterland gezogen. Weil es hier Arbeit gibt – etwas, was in Bosnien-Herzegowina sonst schwer zu finden ist. 30 Prozent sind offiziell arbeitslos.
"In Goražde sind es nur 16 Prozent, aktiv suchen hier sogar nur acht Prozent", erzählt Bürgermeister Muhamed Ramović dem STANDARD. "Wir haben die beste Situation von ganz Bosnien-Herzegowina."
Wunder von Goražde
Einer der Hauptgründe für das "Wunder von Goražde", von dem manche sprechen, ist das sehr profane Engagement eines 66-jährigen öffentlichkeitsscheuen deutsch-bosnischen Unternehmers, der in seiner Heimatstadt investiert hat: Nijaz Hastor ist so etwas wie ein Patriot mit viel Unternehmersinn und einer Mission. 2007 hat Prevent hier mit der Fabrikation von Schutzkleidung begonnen, seit dem Jahr 2012 werden auch Autositze produziert. Am Anfang arbeiteten für die Firma etwa 100 Leute, heute sind es insgesamt 15-mal so viele.
Unternehmenssprecherin Aida Salkić erzählt, dass sogar Leute aus dem anderen bosnischen Landesteil, der Republika Srpska, hierher pendeln. Bei Prevent arbeiten Muslime und Christen zusammen. "Hier in Goražde kamen Geschäftsleute und die Visionen der Regierung zusammen", erklärt Salkić das Phänomen. "Wir haben das Land für eine bosnische Mark pro Quadratmeter bekommen und acht Millionen Mark (etwa vier Millionen Euro) in die Fabrik investiert."
Schnell und effizient
Geklappt hat das alles, weil die zuständigen Bürokraten – in völlig unbalkanischer Weise – effizient und rasch gearbeitet haben. "Wir haben sehr schnell alle notwendigen Papiere bekommen, die Unterstützung von der Verwaltung war toll. In drei Monaten ist die Halle fertig gewesen", sagt Salkić. Neben der Prevent-Fabrik stehen zerfallende verlassene Industrieruinen an der Drina. In jugoslawischer Zeit gab es hier eine Chemiefabrik. Die blitzenden neuen Firmengebäude scheinen wie aus einer anderen, hoffnungsvolleren Welt heruntergefallen zu sein. Auch andere ausländischen Unternehmen haben sich niedergelassen.
Firmensprache Deutsch
Eine davon ist die deutsche Firma Emka. Die Schweißer und Gießer und Bohrer, die hier vor den Maschinen sitzen, stellen Dinge her, die alle im Alltag brauchen, die aber niemandem auffallen: Scharniere, Klinken und Verbindungsteile für Maschinen. Das Metall liegt zunächst in Brocken in Blechkisten, am Ende der Werkshalle werden die eingefärbten Teile in große Kisten verpackt: "Lagerbestückung Emka Bosnien", steht auf den Kisten – in deutscher Sprache.
Ebenfalls in deutscher Sprache wird hier in der Halle auf den "Messplatz" verwiesen. Viele Mitarbeiter sprechen Deutsch – wie Omer Kalkan. Weshalb ausgerechnet in Goražde eine wirtschaftliche Entwicklung möglich ist, obwohl Bosnien so stagniert?
Kalkan überlegt. "Vielleicht funktioniert es so gut, weil die Strukturen hier klein sind. Da kann man Dinge viel leichter umsetzen als etwa in Sarajevo, wo es so viele Interessen gibt", meint er. Tatsächlich sind die Gemeinde und der Kanton Goražde vergleichsweise klein. In anderen Kantonen versuchen alle möglichen Parteien und Bürokratien ein Stück vom Kuchen abzubekommen und machen Unternehmern mit Schmiergeldforderungen oder irgendwelchen dubiosen Kontrollen das Überleben schwer.
Fehlende Facharbeiter
Der Bürgermeister meint, dass der Kontakt zu den Firmen unbürokratisch sei. Man redet miteinander. "In der Verwaltung kommt man uns sehr entgegen, wir bekommen konkrete Antworten", bestätigt Kalkan dies. Nur eines kann die Stadtverwaltung nicht organisieren: die fehlenden Facharbeiter. "Uns fehlen Meister und Ingenieure. Wir wollten eine Alugießerei aufmachen, aber konnten die Leute nicht finden. Die Arbeitsämter haben nicht ausreichend Möglichkeiten, längere Umschulungen zu machen", erzählt Kalkan.
Im bosnischen Ausbildungssystem gab es bis in die 1960er-Jahre das Dualsystem wie in Österreich, danach wurde mehr Wert auf Theorie gelegt. "Deshalb fehlt jetzt für uns die praktische Ausbildung", so Kalkan. Er glaubt auch, dass es in Goražde an kulturellen Veranstaltungen mangelt, die Fachkräfte anziehen würden.
Herr Hastor will immerhin Zukunftsperspektiven für die Kinder und Jugendlichen in Ostbosnien bringen. Er hat die Hastor-Stiftung gegründet, für die Prevent spendet. 1.714 Schüler profitieren von den Stipendien, die von der Volksschule bis zum Studium reichen. Dabei wird vor allem auf den sozioökonomischen Status der Familie geachtet, Arme werden bevorzugt. Die meisten Kinder, die Stipendien erhalten, kommen aus den Dörfern rund um Goražde. Die Hoffnung aus Goražde strahlt also ein wenig aus. (Adelheid Wölfl aus Goražde, 13.1.2017)