Jahrzehntelang hielt die SPÖ die FPÖ systematisch von der Macht fern. Die von Franz Vranitzky ausgerufene und durch Parteitagsbeschluss besiegelte Ausgrenzung dieser Partei war Parteidoktrin. In der Parteipraxis galt dies zuletzt nur mehr für die Bundesebene. In Gemeinden und in einem Bundesland schloss die SPÖ Regierungsbündnisse mit der FPÖ. Um diese Praxis zu steuern und zu legalisieren, nahm sich der neue Parteivorsitzende der SPÖ vor, dem Parteitag einen Beschlussentwurf vorzulegen.

In einem "Kriterienkatalog" sollten die Grundsätze für Bündnisse der SPÖ mit anderen Parteien festgelegt werden. Gleichzeitig trafen die Parteichefs von SPÖ und FPÖ 14 Tage vor der Wahl Alexander Van der Bellens zum Bundespräsidenten zu einem "Streitgespräch" im ORF zusammen. Es wurde höflich diskutiert, nicht gestritten. Christian Kern bestätigte sich und Heinz-Christian Strache die gute Kinderstube, die Gesprächsfähigkeit und die ernsten Absichten, mit ihrer Politik das Wohl der Republik gestalten zu wollen. Bei Wahrung einer Reihe von Unterschieden in wichtigen Grundsatzfragen war damit die Alltagsausgrenzung in der politischen Diskussion beendet, eine normale Gesprächsbasis hergestellt.

Bevor der Kriterienkatalog für den Parteitag fertiggestellt wurde, drehte Christian Kern das Rad weiter. In seinem "Plan A" machte er zum Wahlrecht folgenden Vorschlag: "Wir wollen die Rollen klar verteilen und klare Verhältnisse. Für uns gilt der Wählerwille. Deshalb treten wir für ein neues Wahlrecht ein für klare Verhältnisse: Die stimmenstärkste Partei erhält den Auftrag zur Regierungsbildung. Der Wahlsieger stellt den Bundeskanzler / die Bundeskanzlerin. Die Wählerstimmen sind für uns eine klare Entscheidung und Auftrag genug. Und ehrlich: Der zweite Platz ist der erste Verlierer. Und unser Land ist zu wertvoll, um von VerliererInnen regiert zu werden."

Die Verwirklichung dieses Vorschlags bedeutet nicht nur das Ende der Ausgrenzung, sondern eine Unterwerfung: die Machtübergabe an die FPÖ. Ein Salto rückwärts. Und eine schallende Ohrfeige für die Verliererin ÖVP, immerhin zukunftsreicher (?) Regierungspartner! Die FPÖ ist nämlich in allen Umfragen konstant an erster Stelle, mit einem Abstand zwischen sechs und zehn Prozentpunkten auf den Zweiten – derzeit die SPÖ.

Das kann sich bis zur Wahl 2018 noch ändern. SPÖ und ÖVP können hoffen, Erster zu werden, aber dennoch ist dieser Vorschlag ein unvertretbares Risiko und revolutionär. Er bedeutet an sich noch keine Änderung des Wahlrechts – aber er ergibt nur einen Sinn, wenn die stärkste Partei auch eine Mehrheit im Nationalrat erhält.

Der Bundesgeschäftsführer der SPÖ, Georg Niedermühlbichler, hat sich schon am 30. November 2016 in einer Diskussion bei der "Tiroler Tageszeitung" für ein Wahlrecht ausgesprochen, in dem die relativ stärkste Partei einen Bonus bekommt, damit sie regieren kann. Aus den Erläuterungen im "Plan A" und von Christian Kern geht dies auch klar hervor: Die stärkste Partei soll durch die Wahl auch den Auftrag bekommen, ihr Programm, ohne auf Koalitionen angewiesen zu sein, umzusetzen.

Worin besteht das unvertretbare Risiko? Nicht mehr die Mehrheit der Wähler und ihrer gewählten Vertreter entscheidet, sondern eine Minderheit. Die Mehrheit im Nationalrat verliert das Recht, eine Regierung zu stürzen und damit eine Regierung mit Mehrheit zu erzwingen. Eine Perversion des demokratischen Prinzips. Ein solches Bonus-Wahlrecht gab es bisher in Italien – es hat sich in der politischen Diskussion dafür die Bezeichnung "Porcellum" eingebürgert, zu Deutsch: "Schweinerei"; Italien sucht daher gerade ein neues Wahlrecht. Die Bevölkerung hat sich nicht mit dieser Entmachtung und offensichtlichen Einschränkung der Demokratie abfinden können.

Viele Einzelheiten der von Kern beabsichtigten Wahlrechts- und Verfassungsänderung sind noch unbekannt. Wie soll der relativ Stärkste die absolute Mehrheit der Mandate erhalten? Durch eine Erhöhung der Sperrklausel für kleine Parteien auf zehn Prozent wie in der Türkei? Oder durch Zusatzmandate, die auf Kosten der anderen Parteien gehen, wie in Italien? Oder durch ein Mehrheitswahlrecht nach englischem Muster: Gewählt ist, wer im Wahlkreis die relativ meisten Stimmen erhält?

Was hat Kern bewogen, diesen Vorschlag in einer bestehenden Koalition zu machen – mit dem Zweiten, der ÖVP, die nach seinem Plan eine Verliererin ist und nicht mitregieren soll, weil Österreich zu wertvoll dafür ist, von Verlierern regiert zu werden? Zweifelt er am Kriterienkatalog, wie ihn die SPÖ plant, vielleicht deswegen, weil es immer klarer wird: Wenn man solche Maßstäbe für Regierungspartnerschaften festlegt, kommt am Ende heraus, dass man nur mit einer Partei regieren kann, welche die gleichen Grundsätze hat wie die SPÖ, also eigentlich nur mit sich selbst?

Pikant ist dabei, dass einer der großen Streitpunkte in der Bundespräsidentenwahl genau die Frage des Regierungsauftrags betraf: Muss der Bundespräsident dem Chef der stärksten Partei den Regierungsauftrag erteilen? So meinten viele in SPÖ und FPÖ. Van der Bellen, viele in der ÖVP und andere verwiesen auf die Bundesverfassung, die keinen solchen Automatismus kennt – der Bundespräsident kann beauftragen, wen er für geeignet hält, die Mehrheit im Nationalrat entscheidet letztlich darüber, wer den Kanzler stellt. Der Kern-Vorschlag bedeutet die politische Entmachtung des Bundespräsidenten – er verlöre sein wichtigstes Verfassungsrecht!

Hat der Kern-Vorschlag Chancen auf Verwirklichung? Ich glaube nicht daran. Ein solches Wahlrecht kann als Durchbrechung eines tragenden Grundsatzes der Bundesverfassung nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat beschlossen werden und nach einer Volksabstimmung in Geltung treten. Dass es überhaupt dazu kommt, bezweifle ich. Die kleineren Parteien werden einer solchen Selbstenthauptung nicht zustimmen. Ein entsprechender Plan der Regierung würde auch in den Klubs von SPÖ und ÖVP keine Mehrheit finden – so wie das 2013 von den Klubobleuten von SPÖ und ÖVP eingebrachte Demokratiepaket, das eine maßlose Ausweitung der direkten Demokratie gebracht hätte.

Keine Mehrheit in Sicht

Wie die FPÖ sich verhielte, ist nicht vorhersehbar: Sie war zwar bisher stets gegen ein Mehrheitswahlrecht – aber wer wird nicht in die Salami beißen, die ihm in den Mund gesteckt wird? Aber auch mit FP-Unterstützung ist keine Mehrheit in Sicht!

Im "Plan A" gibt es eine Reihe von guten Vorhaben und sinnvollen Diskussionsvorschlägen. Der Vorschlag zum Wahlrecht gehört nicht dazu. (Andreas Khol, 12.1.2017)