Moor Mother in ihrer Heimatstadt Philadelphia. Auf dem Album "Fetish Bones" dokumentiert sie Rassismus, Gewalt und Niedergang.


Foto: Don Giovanni Records

Wien – Beyoncé mag in der zeitgenössischen Musik mit ihrem aktuellen Album Lemonade zwar die größere gesellschaftliche Wirkungsmacht haben. Wenn es um die wohl auch in nächster Zukunft nicht gelösten Problemfelder Rassismus, Polizeigewalt, weiße Vormachtstellung, Unterdrückung von Frauen und Minderheiten oder die Zerstörung der Zivilgesellschaft sowie diverse Kombinationen obengenannter Begriffe geht, hat die wohlklingend zirpende Multimillionärin gegenüber Camae Ayewa aber einen entscheidenden Nachteil.

Beyoncé wohnt in Uptown New York einige Dutzend Meter höher als Camae Ayewa in den Straßen von Philadelphia. Die zynisch "Stadt der brüderlichen Liebe" genannte, seit ewigen Zeiten industriell niedergehende Metropole, war im Vergleich zu anderen US-Ballungszentren immer schon etwas schneller, wenn es darum geht, dass etwas schlimmer kommt, als man befürchtet, weil es schon immer hier ist. Schon vor vier Jahrzehnten betrieb der Free-Jazz- und Afrofuturismus-Altvordere Sun Ra in Philadelphia ernst gemeint ein Büro, das Arbeitsplätze im Weltraum vermittelte.

Don Giovanni Records

Gemeinsam mit ihrer Partnerin, der Bürgerrechtsanwältin Rasheedah Phillips, leitet Ayewa nicht nur diverse Schreibworkshops und Kreativkurse für benachteiligte Kinder und Jugendliche: The AfroFuturist Affair. Unter dem Künstlernamen Moor Mother produzierte die Künstlerin und Aktivistin Camae Ayewa allein während der letzten drei Jahre auf Bandcamp gezählte zwölf Alben voller wütender Musik, für die die Umschreibung "Protestsängerin" etwas zu milde geraten würde.

Im Track Deadbeat Protest ihres Ende 2016 erschienenen Albums Fetish Bones, mit dem sie jetzt den Durchbruch erreichte heißt es mantraartig wiederholt: "Trying to save my black life by fetishizing my dead life / Fuck, get away from me / You can see my dead body at the protest."

Wir bewegen uns im Kreis

Moor Mother ist nicht nur gegen (weiße) Gewalt und den ewigen positiven wie negativen Rassismus gegenüber Afroamerikanern. Beide Themen ziehen sich im Sinne des Afrofuturismus als roter Faden durch das Album. Sie springen Raum- und Zeitebenen, wechseln zwischen dem US-Unabhängigkeitskrieg, den "Rassenunruhen" 1965 in Watts oder den Polizeischüssen und den anschließenden Straßenkämpfen in Ferguson 2015 hin und her.

Laut Camae Ayewa gebe es keine lineare Geschichte, wir alle bewegten uns im Kreis. Je vehementer man die Vergangenheit hintersich lassen wolle, desto stärker hole sie einen ein. Trotz ihrer kommunalen Tätigkeit sieht sie für die Zukunft schwarz.

Gegenüber der britischen Zeitschrift Wire meinte sie, das es sich bei dystopischer Science-Fiction um die Abbildung künftiger Realitäten handle: "Diese Geschichten sind wahr, aber sie klingen wie Die Tribute von Panem / The Hunger Games. Wenn wir in unseren Workshops die Kinder fragen, wie die Zukunft aussehen wird, dann erwähnen sie immer Die Tribute von Panem. Die Menschen sterben, weinen und klagen, haben Sex. Mehr ist nicht. Das ist die Realität."

Eine geteilte Gesellschaft, die sich von Abschlachtspielen im Fernsehen unterhalten lässt und in der es dann zum Bürgerkrieg kommt: Moor Mother liefert auf Fetish Bones (sowie in einem seit Dezember ebenfalls erhältlichen gleichnamigen Poetry-Band) dafür vorab den Soundtrack. Sie selbst bezeichnet ihre Musik als "Project-Housing-Bop", als Sozialbaujazz aus dem Scherbenviertel, oder auch als "Slaveship Punk" und "Witch Rap".

Angenehm klingt die wüste Mischung aus schweren Inhalten, digitalem Computerlärm, brutal gesampelten Hip-Hop-Beats und Gesprächsfetzen aus dem Fernsehen, verzerrtem Sprechgesang und Gitarren sowie Free-Jazz-Einsprengseln wirklich nicht. Wer das durchhält, fühlt sich allerdings innerlich gereinigt und kann frohgemut für die Zukunft schwarzsehen. (Christian Schachinger, 11.1.2017)