Foto: Westworld / HBO

Ein Disclaimer zu Beginn: Im Folgenden werden Handlungselemente und Figuren der TV-Serie "Westworld"beschrieben, die jenen, die sie noch nicht (zu Ende) gesehen haben, den Spaß am blutigen Westerndrama verderben könnten. Mit anderen Worten: Spoilerwarnung!

Im Herbst des vergangenen Jahres hatten Serienfreunde eine neue Obsession: HBOs "Westworld" fesselte Millionen Zuseher weltweit mit einer über weite Strecken rätselhaften Science-Fiction-Geschichte um einen futuristischen Unterhaltungspark mit Wild-West-Thematik. Das hochkarätig besetzte Drama zeigt eine mythische amerikanische Vergangenheit Ende des 19. Jahrhunderts, in der Siedler, Cowboys, Sheriffs, Banditen und Indianer den perfekten Hintergrund für die Freizeitabenteuer gelangweilter Superreicher abgeben. Bevölkert wird diese riesige künstliche Welt von Robotern, den "Hosts", die ausschließlich zum Amüsement der zahlenden "Gäste" hier ihre Leben führen – und nichts davon wissen, dass sie nur Statisten sind.

Dass diese Science-Fiction-Zukunft in vielerlei Hinsicht von der Gegenwart inspiriert ist, war der nach Hinweisen, Interpretationen und Lösungen der zahlreichen Mysterien suchenden Internet-Fangemeinde schnell klar: Der Themenpark "Westworld" bietet im Grunde dieselbe Erfahrung wie eines der heute populärsten Unterhaltungsmedien – nur dass man ihn eben körperlich betritt statt nur per Avatar am Bildschirm. MMOs, mehr noch aber Open-World-Spiele wie "GTA" oder aber – natürlich – "Red Dead Redemption" waren offensichtlich die Blaupause für das grundlegende Funktionieren dieses so gesehen gar nicht so futuristischen Spielplatzes. Die täuschend menschenartigen Roboter sind NPCs, die als Missionsgeber, Hintergrund, Gegner oder schlicht Opfer der letztlich fast allmächtigen menschlichen Spielerinnen und Spieler dienen.

Spielerfreiheit ohne Konsequenzen

Die meisten Gäste dieser Welt vergnügen sich dann auch mit denselben Aktivitäten wie im Videospiel: Entweder folgen sie den vorher von einem Autorenteam inszenierten und gescripteten Abenteuern – oder aber sie leben einfach die große Freiheit aus, für die das Open-World-Genre steht. In der Welt von "Westworld" gibt es diesbezüglich keine Grenzen: Sowohl sexuelle als auch sadistische Fantasien können hier ohne Konsequenzen umgesetzt werden. "Now that’s what I call a vacation!", ruft ein begeisterter Gast, nachdem er zuvor anlasslos einen ganzen Saloon voller Männer und Frauen niedergeschossen hat, und Logan, ein wiederholter Besucher, erzählt dem Frischling William freimütig, dass ihn das Absolvieren der "normalen" Missionen inzwischen langweilt und er sich lieber als Bösewicht austobt.

Die wenigsten Videospielerinnen und Videospieler können von sich behaupten, sich in den offenen Welten von "GTA" & Co nicht zumindest zeitweise ebenfalls so verhalten zu haben: Die riesigen Abenteuerspielplätze laden eben nicht nur zum Erleben "klassischer" Geschichten ein, sondern auch zum konsequenzlosen Chaos. Ethische Bedenken muss man in "GTA"s Los Santos auch nach der wüstesten Verfolgungsjagd mit der Polizei nicht haben – zum einen, weil die NPCs offensichtlich nur gefühllose Statisten sind, zum anderen, weil diese Welt verlässlich wieder elastisch zu ihrem Ausgangspunkt zurückfedert. Auch in der Welt von "Westworld" kehren die "getöteten" Roboter nach kurzer Instandsetzung am nächsten Tag mit gelöschtem Gedächtnis wieder an ihre Orte zurück.

Träumen Roboter von elektrischen Schafen?

Dreh- und Angelpunkt der ersten Staffel von "Westworld" ist nun das Seelenleben dieser Roboter, die sich zunehmend ihrer Existenz bewusst werden. Natürlich ist das ein uraltes Thema der Science-Fiction: Was unterscheidet den Menschen von seiner technischen Schöpfung, wenn diese ihm immer ähnlicher wird – und trägt er die Verantwortung dafür, wie diese empfindet? Die Antwort von "Westworld" fällt zynisch aus – auch deshalb, weil die Perspektive zum Großteil jene der Roboter ist, die sich ihres Leidens bewusst werden. Dass ausgerechnet der sanfte William, der sich in den Roboter Dolores verliebt, durch seine schließlich jahrzehntelange Obsession mit dieser Welt bis zum sadistischen "Man in Black" abstumpft, den ausschließlich die extremsten Erfahrungen und die Jagd nach dem ultimativen "Easter Egg" interessieren, zeichnet ein düsteres Bild davon, wie Menschen den Autoren zufolge mit Spielewelten interagieren.

So steckt in "Westworld" nicht nur ein recht pessimistischer Blick auf den (realen) Menschen, sondern auch eine beißende Satire auf die große Spieleindustrie. Die meisten der ebenfalls ausführlich porträtierten Ingenieure hinter diesem futuristischen Park sind von denselben Motivationen bewegt wie die Macher heutiger Videospielblockbuster: Es geht primär eben darum, Machtfantasien zu ermöglichen – meist männliche, in denen Gewalt (und, in "Westworld", Sex) eine große Rolle spielt. Die Geschichten, die hinter den Kulissen in mühevoller Arbeit entworfen und vorbereitet werden, und sogar das gesamte aufwendige Setting spielen eigentlich eine untergeordnete Rolle. Die flammende Rede, die ein Bösewicht gerade zu halten anhebt, wird schnöde vom Revolverschuss eines Spielers unterbrochen. Letztendlich, so erkennt auch der von Anthony Hopkins dargestellte Gründervater Robert Ford, zählen für die Kunden nur Sex und Gewalt. Den Machtfantasien der dafür obszöne Geldsummen zahlenden Kunden sind nicht nur die direkt darunter leidenden künstlichen Bewohner des Parks unterworfen, sondern auch deren Erschaffer.

Keine Schwarzweiß-Kritik

Dass das düstere Bild, das "Westworld" so durch die Brille der Science-Fiction von (heutigen) Videospielwelten, ihren Besuchern und Machern zeichnet, trotz aller Parallelen kein stumpfes "Gamer-Bashing" ist, resultiert auch aus der überall sichtbaren Tatsache, dass die Autoren etwas von ihrem Thema verstehen. Sowohl in kleinen Hinweisen auf real existierende Gameplay-Mechanismen, überraschend hintergründige Einblicke in narrative Designphilosophien und in vielen Andeutungen wird klar, dass es den Autoren nicht um die hundertste Schwarzweiß-Kritik an "brutalen Spielen" geht, sondern um differenzierte Betrachtung des Verhältnisses zwischen Spielern, ihren Machern und den Systemen, die diese Spiele ausmachen.

Obwohl sich angesichts heutiger künstlicher Intelligenzen bei NPCs die Frage nach deren Leiden (zum Glück) noch nicht stellt, thematisiert "Westworld" doch genau jene Grauzone, in der sich sich auch Spielerinnen und Spieler auf der Suche nach dem Kick des Allmachtsrausches in vielen Spielen bewegen. Denn auch wenn die virtuellen Wesen, die ihm heute zum Opfer fallen, weder Bewusstsein noch Leidensfähigkeit besitzen, ist die Frage ihrer Behandlung zwar ohne Konsequenz, aber nicht ohne Bedeutung – ein Gedanke, dem auch Philipp Sickmann in einem Artikel für die letzte Ausgabe des Essaymagazins WASD nachgegangen ist.

Was "Westworld" aber außerdem zeigt, ist, dass die Zukunft wirklich immersiver Spiele in einem Feld liegen mag, das auf der Jagd nach immer größerem Fotorealismus jahrzehntelang mehr oder minder brachgelegen ist: in der Entwicklung künstlicher Intelligenz, die uns als Menschen nicht nur spielmechanisch, sondern auch intellektuell und emotional herausfordern kann. Dass auf diesem Gebiet noch riesige ungeborgene Spielschätze liegen, haben – als Beispiele – sowohl "Shadow of Mordor" mit seinen herrlich nachtragenden Ork-Horden als auch Trico in "The Last Guardian" schon unter Beweis gestellt.

Vielleicht sollten wir als Spielerinnen und Spieler diese künstliche Intelligenzen dann ein bisschen besser behandeln als jene von "Westworld". Wer das Ende der Serie gesehen hat, weiß, warum. (Rainer Sigl, 21.1.2017)

Der Blog "Berufsspieler" gibt Meinungen zu aktuellen Videospielthemen wieder.